ALLIGATORPAPIERE
Left Coast Crime Pie




NEBELHORN AM GOLDEN GATE

Eine wahre Geschichte

Wir kamen von Süden, waren ein paar Tage auf See und liefen nun durchs Golden Gate in die Bucht von San Francisco ein. Es war kurz vor sechs an einem Junisonntag, der June-gloom-Nebel wabertealcatraz in dichten Schleiern vor dem Bug des Schiffes und dämpfte die donnernde Brandung an den Felsen der Zuchthausinsel Alcatraz zu einem perlenden Rauschen. Die Gangway des Oberdecks war feucht und leer, trotz der wohlklingenden Deckbezeichnung brannte nur eine schwache Birne neben dem Brückenaufgang. Mich fror, als ich in das kaltgrüne Wasser schaute. Hier muß es gewesen sein, ganz in der Nähe. Er hatte immer vom Rauschen der Alcatrazbrandung gesprochen, das sich, wie Tinnitus, als Dauererinnerung breitgemacht hatte und mit dem er nun leben mußte.

Er war damals nach San Francisco gekommen, weil ihm langweilig war. Er hatte sich freiwillig für den Dienst in Vietnam gemeldet, wollte raus, nur raus. Seit einigen Jahren lebte er wieder im Reservat und suchte eine Möglichkeit, egal welche, der Einöde der Four Corners zu entfliehen. Das einzig Gute an den beiden Jahren im Dschungel war die Erkenntnis, daß die Welt voller Sioux ist, voller Leuten, die beschissen werden; the world, sagte er mir, is full of Sioux. Sioux in Vietnam, Sioux in Indonesia, Sioux in South Korea, in Japan. Geisha-Sioux. Hell, sagt er und schaut mich an, Sioux in Germany.

Eine Handvoll in Berkeley studierender Indianer hatten die Gefängnisinsel besetzt, sich auf einen obskuren Vertrag aus dem Jahrhundert des Indianergenozids berufen und die Insel zurückgenommen, wie es der Vertrag vorsah. Aber Indianerverträge wurden nie eingehalten, das wußte jeder, also schickte die Regierung Truppen statt Unterhändlern. Und die Indianer, die eigentlich nur ein paar Tage auf der schon lange geräumten Insel bleiben wollten, nur während der Sommerferien dort etwas los machen, sie richteten sich jetzt auf eine lange Besetzung ein.

Er hatte die Wochen seit seiner Rückkehr im Nebel verbracht, hatte versucht, die Erinnerungen zu ersäufen und nur bewirkt, daß er nachts wieder in Nam war, klamm und schwitzend, im Fluß und im Feuer, schreiend, laufend, entsetzt. Als er vom Zirkus auf Alcatraz hörte, klaute er nachts eine Segeljolle ohne Mast, aber mit Flautenschieber, warf den Motor an und fuhr an den Polizeikuttern vorbei zum Steg der Insel. Er hatte Lebensmittel dabei, Kaffee und Schnaps, alles auf lau besorgt und mit großem Hurra empfangen. Er war jung und schön, ein schlanker, sehniger Krieger mit Feuer im Bauch. Man machte ihn auf der Stelle zum Sprecher der Gruppe.

Sie nähten Fahnen und schmiedeten eine Gesinnung. Sie forderten nun; die Angst vor Repressalien war einem Bewußtsein gewichen, einem neuen Stolz, dem Stolz auf die Abstammung. Ureinwohner waren sie, Herren über alles, und die Maden, die Weißbäuche, die sich auf ihrem geheiligten Boden breitgemacht hatten, würden nun zur Rechenschaft gezogen. Alcatraz ist in Indianerhand, und bald folgen die Steppen, die es nicht mehr gab. Die Büffelherden, die Wälder, der weite Himmel, der Segen der Mutter Erde, die Götter, die in allem leben und die Tänze und Sprachen, die von den Eindringlingen verboten wurden. Alles würde wieder sein wie früher.

Als die letzten Rebellen im Winter die Insel räumten, die Träume hübsch verpackten und mit auf die Schiffe nahmen, war er schon lange geflohen. Er ging nach Nebraska, ins elterliche Reservat, und dann nach South Dakota, zu den Stammesbrüdern, die dort eine von den Sioux gewählte Vertretung planten. American Indian Movement sollte es heißen, AIM abgekürzt, was zielen heißt und sich einigermaßen kriegerisch anhörte, und er wurde Vorsitzender. Unbeliebt war er im Washington des Kalten Krieges, ein unbequemer Querkopf, der wie alle Querköpfe damals als "Kommunist" verspottet wurde. Er hatte seine Frau auf Alcatraz kennengelernt, war Vater ihrer beiden Kinder und hatte im Reservat der Paiute mit den Schwiegereltern zusammen ein Haus gebaut. Ein schönes Doppelhaus, zweistöckig, auf einem hübsch großen Wüstengrundstück in Nevada. Er bedauerte, sagte er mir, daß er selten zuhause war, aber er mußte doch als AIM-Sprecher ständig unterwegs sein. Es gab soviel zu tun, und sowenige, die zuhörten.

Er stand auf der Treppe des Justizministeriums, hatte die Medien zusammengerufen und ihnen gute Bilder versprochen. Nun nahm er das Feuerzeugbenzin aus der Umhängetasche, besprühte das große Sternenbanner, das er an einer kurzen Fahnenstange hielt, und zündete es an. Während die Flagge brannte, tanzte er den Tanz der Sioux-Krieger. Die Kameras surrten, die Fernsehanstalten übertrugen live, Ansager lasen Stichworte aus der langen Liste des Unrechts, und im fernen Nevada zündete jemand das Doppelhaus an.

Als er heimkam, war die Asche seines Hauses, seiner Frau und Kinder und Schwiegereltern erkaltet. Als er fortging, am selben Tag noch, war sein Feuer erloschen. Er war in Vietnam. Er wußte, wann er besiegt war.

Er wanderte einige Jahre, ziellos, ein dürrer Indianer mit einem wilden Ausdruck in den Augen. Er begann, Gedichte zu schreiben. Ein Sioux gesellte sich zu ihm, spielte Gitarre und vertonte die Gedichte. Ein berühmter Mann aus Malibu hörte die zwei, ein Mann, der seine vielen Millionen mit Liedern über Arme, über Verzweifelte, über Loser verdient hatte und nun einem echten Armen gegenüberstand. Der Mann aus Malibu rief ein paar Leute an, wie das in Hollywood so passiert, und die Leute ließen ihn ein Album aufnehmen, verkauften das Album der beiden Uramerikaner als ethnic music und hatten Erfolg damit. Gelegentlich bekommt er einen Gig, ab und zu tritt er auf und trägt eines seiner Gedichte vor. Er kann leben, weil der Mann aus Malibu und seine Plattenfirma immer wieder etwas aufnehmen und er dafür Tantiemen, Honorare bekommt. Er hat keine feste Anschrift; er bleibt nirgendwo länger als eine Nacht, denn er weiß, daß die, die sein Haus, seine Familie und sein Leben niederbrannten, noch immer auf seinen Körper warten. Das FBI hat immer bedauert, hat immer mit einem freundlichen Lächeln gesagt, daß die Spur leider ins Leere führt, und wir bedauern. Wie können sie ihr eigenes Tun untersuchen, fragt er. Wie wollen sie den Täter finden, wenn sie nicht im eigenen Haus suchen?

Was er denn denkt, wenn er zu Fuß im amerikanischen Westen unterwegs ist? Nicht viel, sagt er. Eigentlich nichts. Das Rauschen in meinen Ohren, weißt du? Die Brandung an den Felsen von Alcatraz. Sie ist immer bei mir. Damals lebte ich noch.




Peter J. Kraus
Santa Maria, California

www.peterjkraus.com

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Peter J. KrausPeter J. Kraus wurde im November 1941 in Wolfenbüttel geboren. Nach Meinung von Peter J. Kraus hätte es aber genausogut Iserlohn oder Wismar sein können. Im Dezember 1949 kam er in West Hollywood an "seither gelegentlich spontane Danksagung". Seine Schulzeit verbrachte er in Kalifornien und in Deutschland. Peter J. Kraus studierte Betriebswirtschaft und arbeitete im elterlichen Betrieb. Als die US Army an ihm verstärktes Interesse entwickelte, er aber dieses Interesse nicht erwiderte, malochte er lieber in Deutschland statt Viet Nam. In dieser Zeit traf er seine Liebe auf den ersten Blick. Heirat 1965, die Söhne Michael Thomas wurden 1967 und Patrick Oliver 1968 geboren, "danach Ebbe". Um 1979 herum kehrte er mit seiner Familie zurück nach Kalifornien, " Frau und Kinder glücklich, weil warm, Meer und sehr lockere Gesellschaft". Ab 1980 arbeitete Peter J. Kraus als Rundfunkmoderator (Rock und Pop), ab 1985 auch für deutsche Sender. Gelegentlich veröffentlichte er Musikkritiken, auf vielfachen Wunsch 1996 "Rock Highway" bei Ch. Link in Berlin, 1997 "Route 66", 1988 "Blues Highway". Seine Publikationen im Musikbereich brachten ihn auf den Geschmack – "Blut wurde geleckt".
Sein Debüt-Krimi "Geier" wurde für den "Friedrich-Glauser-Preis -Krimipreis der Autoren" 2004 in der Sparte "Debüt" nominiert.

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2003, Geier. Knaur 62327


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