A   L   L   I   G   A   T   O   R   P   A   P   I   E   R   E
Zwischen Fakt und Fiktion.
Paco Ignacio Taibo II und
die Nueva Novela Policíaca.
Ein Aufsatz von Frank Leinen


Anfangs der siebziger Jahre, so wird kolportiert, kursierten in Kreisen konservativer Literaturhistoriker die folgenden, nicht ganz ernst gemeinten Fragen:
"Was tut ein seriöser Literaturforscher?"
"Er interpretiert romantische Lyrik." -
"Was tun zwei seriöse Literaturforscher?"
"Sie bereiten eine neue Barockedition vor." -
"Und was tun drei seriöse Literaturforscher?"
"Drei seriöse Forscher gibt es nicht mehr. Einer von ihnen beschäftigt sich mit Trivialliteratur."
Der Witz besitzt inzwischen historischen Wert, denn populäre Literaturformen wie der im Mittelpunkt meines Vortrags stehende Kriminalroman genießen in Europa und den USA gegenwärtig eine breite wissenschaftliche Akzeptanz.
In Hispanoamerika hingegen erfolgte mit Ausnahme Kubas und Argentiniens die literaturtheoretische und -kritische Auseinandersetzung mit der novela policíaca bislang vergleichsweise zurückhaltend. Die Vorbehalte leiten sich vornehmlich aus der Tatsache ab, daß das in Europa entstandene und in den USA besonders beliebte Genre abseits des offizialisierten nationalen Literatur- und Kulturverständnisses angesiedelt ist. Die wenigen hispanoamerikanischen Autoren, die sich der Kriminalliteratur verschrieben hatten, setzten sich dem Vorwurf der Imitation, der Inauthentizität und der literarischen Niveaulosigkeit aus.
Auch in Mexiko wirkt die problematische Dichotomie von vermeintlich erhabener, nach Authentizität strebender literatura difícil und vorgeblich niederer, weil leicht konsumierbarer und imitativer literatura light nach. Dies erscheint bedauerlich, denn der Kriminalroman dürfte als hybrides und transnationales Genre par excellence durchaus einer näheren Betrachtung wert sein. Dementsprechend möchte ich an einem repräsentativen Einzelbeispiel - es handelt sich um Taibos Roman Algunas nubes - darlegen, auf welche Weise der Urheber der nueva novela policíaca internationale Hypotexte seiner spezifischen Interpretation der mexikanischen Kultur folgend in sein Schaffen einbringt. Kritische Distanz zum Eigenen und Transkulturation des internationalen Modells sind zentrale Faktoren, aus denen Taibos Werke einen Gutteil ihrer literarischen Dynamik schöpfen.
Mit Días de Combate1 wandte sich der 1949 im spanischen Gijón geborene, seit 1958 in Mexiko lebende und 1980 eingebürgerte Taibo 1976 der Kriminalliteratur zu. Inzwischen liegen über vierzig Bücher von ihm vor, und er gilt mit als einer der meistgelesenen zeitgenössischen Kriminalautoren Mexikos.
Da die mexikanische Literaturkritik geflissentlich über Taibo hinwegsieht, präsentiert er sich gerne als marginalisierter David, der gegen den Goliath der offizialisierten und inventarisierten Nationalkultur antritt. Mit bissigem Grimm freut sich Taibo denn auch immer wieder, daß seine Kriminalromane als pelo en la sopa der "kulturellen Mafia" die Freude am nationalliterarischen Eintopf verderben.
Eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der politischen Motivation der Romane Taibos und des in ihnen entwickelten Mexikobildes besitzt die Erfahrung der gewaltsamen Niederschlagung der Studentenrevolte von 1968, an welcher der Autor aktiv beteiligt war. In seinem experimentellen Roman Héroes convocados.2 Manual para la toma del poder unternimmt denn auch der Protagonist mit Hilfe Sandokans, Old Shatterhands, Winnetous, Sherlock Holmes' und anderer Helden der Populärliteratur einen erfolgreichen Staatsstreich gegen das mexikanische Regime, bevor er sich bis auf weiteres nach Casablanca zurückzieht.
Auffallend ist in Héroes convocados die Abwesenheit eines mexikanischen Helden. Offenbar konnten aus Taibos Sicht bis 1968 keine populären literarischen Identifikationsfiguren abseits des postrevolutionären nationalen Pathos bestehen. Mit seinen gesellschaftskritischen Detektiven, insbesondere dem in einer Reihe von Romanen wiederkehrenden Héctor Belascoarán Shayne, kompensiert er dieses Defizit.
Die zentralen literarästhetischen und gesellschaftskritischen Positionen Taibos lassen sich exemplarisch in Algunas nubes3 erschließen, dem 1985 erschienenen, vierten Roman der Serie um Héctor Belascoarán Shayne. Algunas nubes ist neben Cosa fácil4 der bislang wohl größte literarische Erfolg Taibos. Der Roman schildert, wie Héctor den Mord an dem Ehemann einer Bekannten seiner Schwester aufklärt, der nach dem Ableben seines Vaters Costa ein überraschend großes Vermögen geerbt hatte. Da finstere Gestalten das Leben Anitas, so der Name der jungen Witwe, bedrohen und sie zum Verzicht auf ihr Erbe zwingen möchten, ist Eile geboten. Die Ermittlungen führen den Detektiv zunächst zu einer zwielichtigen Figur, die er während seines Studiums unter dem Namen La Rata kennengelernt hatte und die im Umfeld von 1968 als Streikbrecher und Spitzel wirkte. Als Anwalt steht La Rata nun in engem Kontakt mit dem korrupten und verbrecherischen Polizeiapparat. Über diese Spur erfährt Héctor, daß ein hochrangiger Polizeivertreter in den Mord verwickelt ist. Es stellt sich ferner heraus, daß dieser Polizist ein Verwandter des verstorbenen Costa war. Costa hatte für ihn Schwarzgeld aus Banküberfällen verwaltet und gewaschen. Als Bankräuber betätigten sich ehemalige Polizeiangehörige, und ihre Aktionen wurden von Costas Verwandtem gegen einen entsprechenden Anteil gedeckt. Nach der Aufklärung des Falles kann Héctor den hochrangigen Polizisten jedoch nicht dingfest machen, da dieser nach außen hin seine Hände in Unschuld wäscht. Als aber das skandalöse Doppelspiel aufzufliegen droht, liquidiert das System den Polizeikommandanten durch einen gestellten Unfall.
So weit in kurzen Zügen der Inhalt des Romans, dessen Analyse die folgenden Erkenntnisschwerpunkte zum Gegenstand hat: zunächst möchte ich Taibos Mexikanisierung des Kriminalromans mittels seiner Darstellung der Detektivfigur und der mexikanischen Hauptstadt erschließen. Weiterhin steht die Interpretation transkultureller literarischer Anspielungen, die Taibo in seinen populären Roman einschreibt, im Mittelpunkt. Hiermit geht einher die Erfassung der für Taibo typischen engen Verzahnung von mexikanischer Realität und Romanfiktion. Héctor Belascoarán Shayne: Der sperrige Name des Detektivs, der aufgrund seiner Physis und seines Weltbildes als alter ego Taibos erscheint, läßt aufhorchen. Tatsächlich verbirgt die Namenswahl mehrere Aussagen und Anspielungen: Der Vorname erweist sich als Reminiszenz an den mutigen Beschützer Trojas in Homers Ilias. Héctors Vater war ein politisch linksorientierter baskischer Seemann, und seine Mutter eine irische Sängerin. Hinter Shayne verbirgt sich auch ein Fingerzeig auf eine Figur des nordamerikanischen Kriminalschriftstellers Brett Halliday, namens Michael Shayne. Ihn gestaltete Halliday nach der Person eines mexikanischen Seemanns, den er einmal kannte. Schließlich erinnert Belascoarán Shaynes Name an das Pseudonym Suárez Lynch, mit dem Borges und Bioy Casares die gemeinsam verfaßte Kriminalerzählung Un modelo para la muerte publizierten. Héctors Name erweist sich daher als das Produkt einer kultur- und epochenübergreifenden Kombinatorik.
Doch nicht genug der Verweise auf die internationale Kriminalliteratur: Wie im Falle Sherlock Homes' kennen wir die Büroanschrift Belascoaráns in der Calle Artículo 123 im Zentrum Mexikos. Wie symbolträchtig diese Wahl ist, belegt der Blick auf den Stadtplan: Héctor hat sich in einer Nebenstraße des Palacio de Bellas Artes, also abseits der offizialisierten Schönen Künste niedergelassen. Sein Büro ist aber auch nur wenige Metrostationen von der Plaza de las Tres Culturas entfernt, die 1968 traurige Berühmtheit erlangte. Hinzu kommt der in Héroes convocados nachzulesende Vermerk, daß 1968 die Revolte 123 Tage dauerte. Ein Blick in die mexikanische Verfassung offenbart schließlich, daß der Artikel 123 "del trabajo y de la previsión social" handelt. Regelungen wie der Acht-Stunden-Tag, das Verbot von Kinderarbeit, gleicher Lohn für die gleiche Arbeit, Versicherungspflicht, Demonstrations- und Streikrecht sind hier festgeschrieben, doch zwischen Verfassungstext und der von Taibo in seinen Romanen geschilderten sozialen Wirklichkeit klaffen Welten. Belascoarán Shaynes Wohnsitz verschlüsselt somit biographische, poetologische und politische Aussagedimensionen.
Taibo wählte nach eigenem Bekunden die hard-boiled novels Hammetts und Chandlers als Grundlagen seines Schaffens. Entsprechend präsentiert sich Héctor als mexikanisiertes Pendant zu Chandlers Detektiv Philip Marlowe. Wie Marlowe hat auch Taibos Protagonist erfolgreich studiert, bevor er den Entschluß faßte, als Privatdetektiv zu arbeiten. Zugleich unterläuft Taibo das im nordamerikanischen Romanmodell herrschende Klischee des abgebrühten Ermittlers: Héctor ist kein Supermann. Dafür besitzt der detective demócrata eine sozialromantische, idealistische Ader. Héctor verkörpert in Taibos Romanen eine positive, individualisierte Handlungsethik abseits der gesellschaftlichen Norm. Damit steht er im Gegensatz gerade zu Hammetts Ermittlern, die oft dieselben zweifelhaften ethischen Grundsätze wie die von ihnen gejagten Verbrecher vertreten.
Héctor ist kein Supermann, und er ist auch nicht unsterblich. So parodiert Taibo den Mythos des klassischen Ermittlers, indem er seinen Detektiv in No habrá final feliz5 einem Mordanschlag zum Opfer fallen läßt. In seinem nächsten Roman, Regreso a la misma ciudad y bajo la lluvia,6 erweckt er ihn jedoch wieder zum Leben. Aber selbst dieses Spiel mit der Norm verbirgt ein literarisches Zitat, denn bereits Arthur Conan Doyle ließ 1894 Sherlock Holmes in The Memoirs of Sherlock Holmes sterben, um sich von seiner Figur zu befreien. Aufgrund heftiger Leserproteste mußte er ihn aber wiederauferstehen lassen. Taibo ging es - so seine Auskunft - nicht anders als dem Briten.
Héctor weiß sehr wohl, daß er lediglich im Einzelfall und an der Oberfläche des mexikanischen Systems für Recht und Ordnung sorgen kann. In Algunas nubes heißt es hierzu:
"Sabía que cuando llegara al final, si llegaba, se iba a encontrar con una pared que impediría la justicia."7 Deshalb überlebt er nur dank einer gehörigen Portion Sarkasmus und Selbstironie. Taibos Protagonist steht in typologischer Hinsicht somit zwischen der traditionellen, erfolgreichen Detektivfigur und ihrer postmodernen, vom Scheitern geprägten Ausformung. Während im traditionellen Kriminalroman das Verbrechen als eine ausnahmehafte Störung der gesellschaftlichen Ordnung erscheint, die der Detektiv wiederherstellt, scheitert in Taibos Romanen der Detektiv angesichts eines verbrecherischen Systems. Das fiktionale Spiel mit gesellschaftlichen und politischen Fakten bietet ihm dabei einen geeigneten Freiraum zur Artikulation und Popularisierung seiner Kritik an der politisch motivierten Konstruktion einer mythischen mexikanischen Realität.
In Algunas nubes artikuliert sich der durch die Erfahrung von 1968 initiierte systemkritische Impetus des Schaffens Taibos besonders deutlich im Zusammenhang mit der Person La Rata, dessen Karriere ausführlich geschildert wird. Während der Studentenrevolte profilierte sich La Rata als führender gángster estudiantil, der als staatlich geförderter Agent die studentische Bewegung unterwanderte. Dank seiner antikommunistischen Aktivitäten in der universitären Unterwelt knüpfte er rasch Kontakte zur Politik. Wo sich die Staatsmacht nicht die Hände schmutzig machen wollte, stand La Rata bereit, Wahlen zu stören, Angst zu verbreiten, Streiks zu brechen, einen Professor zu entführen oder Informationen an die Polizei zu verkaufen. Nach 1968 baute La Rata mit Duldung der Polizeibehörde eine Stadtguerrilla auf, welche von Bankraub lebte und für Männer in öffentlichen Schlüsselpositionen die groben Arbeiten verrichtete. Wie sehr diese in der Fiktion am Beispiel von La Rata geschilderte Vermischung von Verbrechen und staatlicher Autorität der Realität entspricht, stützt Taibo in Algunas nubes durch den Hinweis auf eine Erhebung der Nachrichtenagentur ANSA, nach welcher die Spuren von 76% aller Kapitalverbrechen in der Hauptstadt zur Polizei hinführen.
Die Problematisierung des offizialisierten Mexikobildes geht mit einer für die nueva novela policíaca typischen Darstellung von Mexiko-Stadt einher. Wie Hammett, Chandler und die Autoren des roman noir situiert Taibo seine Romane im großstädtischen, mafiös organisierten Verbrechermilieu, das durch einen authentischen Jargon große Lebendigkeit vermittelt bekommt. Taibos Detektiv muß dabei in einem höchst irrationalen, chaotischen und kafkaesk gestalteten Umfeld ermitteln, wie es nur el monstruo, die Hauptstadt, bietet. Zu den Irrationalismen der Romane Taibos zählt in diesem Zusammenhang, daß Héctor wie viele seiner Zeitgenossen el D.F. zugleich haßt und auch liebt. Ähnlich erging es schon Chandlers Detektiv Marlowe im Hinblick auf L.A.
Gerade in der Evokation einer Atmosphäre, in der die soziale Problematik, das Verbrechen und die politische Korruption zu einem belastenden Alltag wurden, sieht Taibo das besondere Anliegen des género neopolicíaco. Dem Horrorbild eines korrupten Staatswesens stellt er - vertreten durch die Überzeugungen seiner Detektivfigur - das Ideal einer offenen, pluralen und sozial gerechten Gemeinschaft entgegen. Seine Romane sieht Taibo denn auch als ajuste de cuentas contra el sistema. Er stilisiert seinen Detektiv als sympathischen Einzelgänger und "Gefühlssozialisten", der mit den Idealen von 1968 gegen die staatlich unterstützte Korruption und das Verbrechen antritt. Die von ihm ins Leben gerufene nueva novela policíaca besitzt eine markant oppositionelle Funktion. Taibos Erfolge gerade in Kuba, wo zeitweise kein ausländischer Autor mehr Bücher verkaufte als der Mexikaner, bestätigen die von sozialistisch-marxistischen Überzeugungen getragenen Tendenzen seiner Werke.
Ich komme nun zum zweiten Abschnitt meiner Ausführungen, in dem einige der textuellen Anspielungen in Algunas nubes erfaßt werden sollen, in denen sich das Verfahren einer literarischen Transkulturation nachvollziehen läßt. Damit zusammenhängend bietet sich auch die Kommentierung der von Taibo durchgeführten Mischung von Fakt und Fiktion an.
Am letztgenannten Aspekt möchte ich anknüpfen. In Algunas nubes wird Héctor nach der Unterredung mit La Rata Zeuge, daß dieser seinen Männern den Auftrag erteilt, einen in der Colonia Condesa lebenden novelista pendejo für einige Tage durch einen fingierten Unfall aus dem Weg zu schaffen. Héctor ermittelt, daß dort niemand geringeres als der Lyriker José Emilio Pacheco und - der Kriminalschriftsteller Paco Ignacio Taibo II wohnen. Héctor begibt sich sofort zu Taibo, um ihn zu warnen.
In überraschender Weise überschreitet Algunas nubes durch den Kontakt zwischen fiktiver Person und Autor die in den übrigen Werken Taibos zwar durchlässige, aber immer noch textuell markierte Grenze zwischen Kunst und Leben, Fiktion und Fakt. Taibos Kriminalromanen erhält zugleich den Charakter eines Palimpsestes, da er auf Werke verweist, welche die Frage nach Sein und Schein ansprechen. Als die drei zentralen Referenzautoren Taibos fungieren hierbei der von ihm hochgeschätzte Cervantes, sowie Unamuno und Pirandello.
Der Verweis auf Cervantes' Don Quijote, dessen zweiter Teil von Taibo nach eigenem Bekunden besonders geschätzt wird, bietet sich in mehrfacher Hinsicht an: Das offenkundigste Indiz besteht darin, daß in Algunas Nubes der hinter sämtlichen Morden stehende Polizeikommandant den Namen Saavedra trägt. Wie der spanische Autor pflegt auch Taibo einen spielerisch-parodischen Umgang mit seinen Hypotexten. Kann Don Quijote als Kritik der Ritterromane gelesen werden, so wendet sich Taibo vom unterhaltsamen und iterativen konventionellen Kriminalroman ab. Hinzu kommt, daß dessen Korrelat mit der Wirklichkeit im Vergleich zu Taibos nueva novela policíaca eher niedrig anzusetzen ist. Schließlich spielt Taibo wie Cervantes auf die fließenden Übergänge zwischen Fakt und Fiktion an. Parallelen zu Unamunos Roman Niebla sowie den in Maschere Nude gesammelten Theaterwerken Pirandellos liegen in diesem Zusammenhang ebenfalls auf der Hand. Mit ihnen verknüpft Taibo jedoch keine unmittelbaren existenzphilosophischen Überlegungen, sondern er möchte eher die problemhafte Faktizität des Geschilderten steigern. In Don Quijote erhält der Protagonist eine eigene, scheinbar entfiktionalisierte Wirklichkeit, als er das Buch kommentiert, in dem seine Abenteuer geschildert werden. Im Gegenzug tritt Cervantes in der Erzählung des Cautivo als Person des Romans indirekt in Erscheinung. In Algunas nubes führt Taibo dieses Muster weiter, indem er sich direkt, ausführlich und realitätsnah als kettenrauchenden Colasüchtigen und alleinerziehenden Vater einbringt. In Anlehnung an Cervantes fiktionalisiert sich Taibo somit als Person der Realität, während Héctor wie Don Quijote als Person der Fiktion materialisiert wird. Entsprechend meint Taibo zu Héctor: "Tú no escribes, �verdad? No, tú eres del estilo protagonista, no del estilo autor..."8 Wir begegnen dem Paradox, daß die konventionelle Trennung zwischen Realität und Fiktion ebenso wie die konventionelle Rollenverteilung zwischen Figur und Autor zwar semantisch behauptet, situativ jedoch aufgehoben werden.
Der durch die Überschreitung von Fakt und Fiktion insinuierte Fingerzeig auf Pirandellos in Maschere nude gesammelte Dramen erlaubt es, unter Rekurs auf das bei dem Italiener zentrale Maskenmotiv von der Maskiertheit des Daseins in der mexikanischen Gesellschaft zu sprechen. Hiermit wiederum erschließt sich ein impliziter Verweis auf Octavio Paz' El laberinto de la soledad, der in dem Kapitel máscaras mexicanas die Mexikaner als simuladores bezeichnet. Doch Taibo nuanciert die Interpretationen des Maskenmotivs durch Pirandello und Paz: Bei Pirandello führt selbst das Lüften der Maske nicht zur Wahrheit, da die Alternative von gut und böse nicht mehr besteht und ge-sellschaftliche Urteilskategorien ambivalent geworden sind. Anders gestaltet sich die Demaskierung der Lüge bei Taibo: Sein und Schein bleiben zwar in einer unaufhebbaren dialektischen Spannung, doch wird der Lüge von einer Warte der ethisch-moralischen Wahrheit her zumindest kurzfristig ihre Maske entrissen. Dieser Sieg der Wahrheit bleibt aber anders als im traditionellen Kriminalroman ephemer.
Im Unterschied zu Paz, der eine kollektive Identitätsbestimmung "des Mexikaners" anstrebte und der inspiriert durch den Existenzialismus und die Tiefenpsychologie zu einem pessimistischen Ergebnis gelangt, differenziert Taibo sehr wohl: Bei ihm tragen nur die Vertreter des Verbrechens und die von ihm infizierten Personen des Establishments Masken. Taibo gibt den máscaras mexicanas, von denen Paz spricht, eine politische, auf den kriminellen submundo der Gesellschaft gerichtete Auslegung. Die scheinbare Seriosität der Politik maskiert das Verbrechen. Die politischen Morde des vergangenen Jahrzehntes scheinen diesen Befund zu bestätigen.
In Algunas nubes ist auch der Schriftsteller Taibo dem Polizisten Saavedra auf der Spur, der in eine Reihe von Mordfällen und in den Drogenhandel verwickelt zu sein scheint. Weil Héctor Taibo vor La Ratas Leuten warnt und beide gemeinsam die Verbrecher in die Flucht schlagen, wird das konventionelle Abhängigkeitsverhältnis zwischen Figur und Autor vertauscht beziehungsweise nivelliert. Die Episode endet mit einer selbstironischen Anmerkung, welche erneut die Fiktionalität als Faktizität erscheinen läßt:
-�Qué tal me salió? -preguntó Héctor. Der Schriftsteller antwortet:
-No tan bien como en las novelas, pero bastante a toda madre, yo diría.
9 Auch im folgenden pflegt Taibo eine humorvolle Selbstironie, wenn sich Anita mit Héctor über ihn unterhält und die Frau zu Taibos Romanen meint: "no creo que gane el Nóbel, pero a mí me gusta."10 In der Tat bildet der Publikumsgeschmack die einzige von Taibo anerkannte Urteilsinstanz.
Der Taibo des Romans nutzt das Zwiegespräch mit Héctor, um dem Konzept des género neopolicíaco entsprechend harsche Kritik an den mexikanischen Verhältnissen zu üben. In Anbetracht der über ihm schwebenden Morddrohung denkt er über seine Möglichkeiten nach, als Autor zu einer Veränderung beizutragen (Zitat 1):
-Este país mata, Héctor (...). Mata por corrupción, por aburrimiento, por ojete, por hambre, por desempleo, por frío, por bala, por madriza. No tengo inconveniente en echarme un trompo contra el sistema. Pero no así, no de Shayne al desconocido, no de western. No solito, chingá. (...) �Quién soy yo, Jane Fonda o qué pedo? Esas guerras ni se ganan ni se pelean. El escritor estrella y su máquina de escribir contra el subjefe de la judicial y pinchemil guaruras todos con pistolas, rifles, metras, ca�ones, bazukas y sacamierdas. �Qué rollo? Si el de la tintorería de aquí abajo me dice que corrieron a su hijo de una chamba y no le quieren pagar la liquidación como es de ley, me cae que me meto a echar una mano, si puedo escribir la verdad y encuentro quien la publique, la escribo.11
Der Taibo des Romans vertritt ein pessimistisches Selbstbild. Da er das menschenverachtende politische System kaum alleine verändern kann, sucht er unter seinen Lesern Verbündete, damit es ihm gelingt, wenigstens im Alltag der Gerechtigkeit zu kleinen Siegen zu verhelfen. Deshalb - so gesteht der in Algunas Nubes auftretende Schriftsteller - hat er auch das Projekt, die Affäre Saavedra in einem Roman zu verarbeiten, aufgegeben. Taibo beschreibt am Beispiel seines fiktionalisierten Ich das Problem des oppositionellen Engagements in der mexikanischen Realität. Héctors Replik scheint die Skepsis des Schriftstellers im Roman zu bestätigen (Zitat 2):
- Mira, pinche Paco -dijo Héctor (...). No, yo detective, yo pura madre. Yo lo único que pasa es que no sé escribir novelas, entonces me meto en las de otros. Yo solito contra el sistema, ya vas. (...) Me emputa tanto como a ti, me reencabrona cómo se van consumiendo el país y lo van haciendo mierda. Soy tan mexicano como cualquiera. Ha de ser por eso que ya no creo en nada más que en supervivir y seguir chingando. (...) Yo soy detective porque me gusta la gente. 12
Im Unterschied zum Detektiv des traditionellen Kriminalromans glauben Autor und Figur nicht daran, eine gesellschaftliche Ordnung herstellen zu können. Dieser Desillusion steht aber ihr Handeln im konkreten Fall und im Zeichen der Mitmenschlichkeit gegenüber. Der frustrierenden Tatsache, daß das mexikanische System sämtliche Versuche, gegen es anzugehen, übersteht, begegnen sie mit einer Art trotziger Hartnäckigkeit. Camus' Sisyphos könnte als ihre Emblemfigur gelten. Im Gegensatz zu seinem literarischen alter ego hat Taibo in Algunas nubes gleichwohl die Affäre um Saavedra literarisch verarbeitet, so daß dem verhaltenen Pessimismus des Schriftstellers im Roman durch das verhaltene Engagement des Romanschriftstellers begegnet wird.
Auf den letzten Seiten nimmt Algunas nubes erneut eine überraschende Wendung. Héctor kann jene Männer dingfest machen, die Anita bedrohen. Saavedra sieht sich gezwungen, seine Kumpane festzunehmen, und muß, um sein Gesicht zu wahren, Héctor zu seinem Erfolg gratulieren. Dieser rechnet nun mit der Rache Saavedras, als ihn sein Bruder, der mit dem Taibo des Romans befreundet ist, anruft (Zitat 3):
- Está muerto, hermano. Se mató o lo mataron en un accidente de coche en la carretera de Querétaro.
- �Quién, Saavedra?
- Si, pero también el escritor. A los dos. Se mataron o los mataron juntos. Un choque en la carretera. (...) Iban juntos en el automóvil a más de cien y se embarraron contra un tráiler.
13
In seinem Büro findet Héctor schließlich ein Telegramm Taibos: "Fui a preguntarle. Paco Ignacio."14 Der Schriftsteller im Roman suchte wie der Detektiv nach der Wahrheit, und er mußte hierfür mit dem Leben zahlen. Das mexikanische System hat sich höchst effektiv jener Männer entledigt, die sein Funktionieren zu stören drohten. Taibo spielt ein letztes Mal mit den Möglichkeiten einer Vermischung von Fakt und Fiktion, indem er sich selbst im Roman sterben läßt. Das Ende von Unamunos Niebla, in dem der Protagonist stirbt und der Autor konsequenterweise weiterlebt, wird ironisch zitiert und in absurd anmutender Weise auf den Kopf gestellt. Taibos Roman endet somit ohne Autor, oder aber der Autor des Romans ist ein anderer als Taibo. Zwar konnte das Rätsel der Ermordung Costas gelöst werden, aber das Rätsel um die Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion sowie ihre inner- und außerliterarischen Folgen besteht weiter.

1 Die Zeit der Mörder.
München, Goldmann 1981 und 1987(unv. Nachauflage) (TB 5222- Lit. Krimi)
Übersetzung: Gerhard Baumrucker
Días de Combate, Grijalbo, 1976
(Krimi mit Hector Belascoarán Shayne # 1)

2 1968/Gerufene Helden. Ein Handbuch zur Eroberung der Macht
Hamburg, Libertäre Assoziation & Berlin, Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße 1997
Übersetzung: Annette von Schönfeld
Héroes convocados: manual para la toma del poder, Grijalbo, 1982 und
Fantasmas nuestros de cada día, Marco Polo, 1988.

3 Ein paar Wolken.
Berlin, Rotbuch 1988 (Pb 2007) und 1993 (TB 89)
Übersetzung: Manfred Heckhorn
Algunas Nubes, Leega, 1985
(Krimi mit Hector Belascoarán Shayne # 4)

4 Eine leichte Sache.
München, Goldmann 1982 (TB 5229 - Lit.Krimi) und 1987 (TB 6240 - Meiterwerke)
und Hamburg, Edition Nautilus 1999
Übersetzung: Gerhard Baumrucker
Cosa fácil, Grijalbo, 1977
(Krimi mit Hector Belascoarán Shayne # 2)

5 Das nimmt kein gutes Ende.
München, Goldmann 1984 und 1989(unv. Nachauflage) (TB5252 -Lit. Krimi)
Übersetzung: Gerhard Baumrucker
No habrá final feliz, Laser, 1981
(Krimi mit Hector Belascoarán Shayne # 3)

6 Comeback für einen Toten.
Reinbek, Rowohlt 1991 (rororo thriller 3019)
Übersetzung: Thomas Brovot
Regreso a la misma ciudad y bajo la lluvia, Editorial Planeta Mexicana, 1989.
(Krimi mit Hector Belascoarán Shayne # 5)

Alle folgenden Zitate sind aus dem Buch:
Ein paar Wolken (Algunas nubes)
in der Übersetzung von Manfred Heckhorn
Berlin, Rotbuch 1988 (Pb 2007) und 1993 (TB 89)

7 "Er wußte, daß er am Schluß - falls er überhaupt so weit käme – gegen eine Wand rennen würde, die jede Gerechtigkeit abblockte"

8 "Du schreibst nicht, stimmt's? Nein, du bist der Protagonistentyp, nicht der Autorentyp..."

9 "Wie war ich?" fragte Héctor.
"Nicht ganz so gut wie im Roman, aber ganz schön ausgebufft, würde ich meinen."

10 "Ich glaube kaum, daß er den Nobelpreis gewinnen wird, aber mir gefällt er."

11 –"Dieses Land tötet, Héctor (...). Es tötet mit Korruption, aus Langeweile, mit seinem Dreck, durch Hunger, durch Arbeitslosigkeit, durch Kälte, mit Kugeln, mit der Faust. Ich hätte ganz und gar nichts dagegen, dem System eins zu verpassen. Aber nicht so, nicht á la Shayne gegen den Großen Unbekannten, nicht wie im Western. Nicht allein, verdammt. (...)Wer bin ich denn? Etwa Jane Fonda, oder was? Solche Schlachten gewinnt man nicht und schlägt man nicht. Der Starautor mit seiner Schreibmaschine gegen den Vizekripochef und zigtausend Totschläger, alle mit Pistolen, Gewehren, MG's, Kanonen, Bazookas und dem ganzen Scheißzeug! Lächerlich! Wenn der aus der Reinigung hier unter mir sagt, daß sie seinen Sohn aus seiner Klitsche rausgeschmissen haben und ihm die gesetzmäßige Abfindung nicht zahlen wollen, mag sein, daß ich dann hingehe und helfe, und wenn ich die Wahrheit schreiben kann und jemanden finde. der sie veröffentlicht, dann schreibe ich sie."

12 –"Hör mal, du lausiger Paco" sagte Héctor (...): "ich schon, ich bin Detektiv, ich mach das knallhart. Einzig, daß ich keine Romane schreiben kann, also misch ich mich in die von andern. Ich ganz allein gegen das System, du sagst es.(...) Es geht mir genauso gegen den Strich wie dir, es macht mich zornig, wie sie das Land aussaugen und fertigmachen. Ich bin genauso Mexikaner wie jeder andere. Daran muß es liegen, daß ich nichts anderes mehr will, als zu überleben und weiter mitzumischen. (...)Ich bin Detektiv, weil ich die Leute mag."

13 –"Er ist tot, Bruder. Er wurde oder man hat ihn bei einem Autounfall getötet, auf der Autobahn nach Querétaor."
"Wer?" Saavedra?"
"Ja, aber auch der Schriftsteller. Beide. Sie sind zusammen umgekommen oder umgebracht worden. Ein Zusammenstoß auf der Autobahn. (...) Sie sind zusammen in einem Auto gefahren, mit mehr als 100 Sachen, und rastenin einen Ahänger hinein."

14 "Hab ihn gefragt. Paco Ignacio."

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Paco Ignacio Taibo II Autorenporträt
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Dr. Frank Leinen
ist Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und geschäftsführender Leiter des Romanischen Seminars. Im Wintersemester 2000/01 gestaltete er dort unter anderem eine Lehrveranstaltung unter dem Titel "Der mexikanische Kriminalroman: interkulturelle Spielformen eines populärens Genres".
"Wenn man sich über den mexikanischen Kriminalroman insgesamt einen ersten Überblick verschaffen möchte, ist übrigens die Monographie von Ilan Stavans: Antihéroes mexicanos, ein guter Tip."


Dieser Beitrag von Prof. Dr.Frank Leinen ist die Kurzversion eines Aufsatzes, der in dem Sammelband miradas-entrecruzadas.jpg"Miradas entrecruzadas". Diskurse interkultureller Erfahrung und deren literarische Inszenierung erschienen ist. er enthält die Beiträge des Forschungskolloquiums "Selbstvergewisserung am anderen oder Der fremde Blick auf das Eigene. Diskurse interkultureller Erfahrung und deren Inszenierung in den Kulturen Spanischamerikas." Forschungskolloquium zu Ehren von Prof. Dr. h.c. Dieter Janik, herausgegeben von den Mainzer Romanisten Jutta Blaser/Wolf Lustig/Sabine Lang im Vervuert-Verlag
Für die Genehmigung zum Abdruck bedanken wir uns herzlich beim Vervuert Verlag und bei Frank Leinen!
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