Ulrich Kroegers Krimitipp
Die Krimikolumne
3/2009
Am 26. März jährte sich der Todestag Raymond Chandlers zum 50. Mal. Doch nicht deshalb haben wir nach langer Zeit wieder Romane des Meisters aus dem Bücherregal geholt, wo sie selbstverständlich einen Ehrenplatz einnehmen.
Es war Elliott Goulds Aufnahme von "The Big Sleep" (Bertz + Fischer, Berlin 2008, MP3-CD, 370 Minuten, 19,90 Euro), die uns anfixte, nach "Der große Schlaf" (208 Seiten, 8,90 Euro) weitere Philip-Marlowe-Romane zu verschlingen. "Lebwohl, mein Liebling" (304 Seiten, 9,90 Euro), "Der lange Abschied" (384 Seiten, 9,90 Euro) und "Das hohe Fenster" (272 Seiten, 8,90 Euro), wie das gesamte Werk Chandlers liebevoll ediert beim Zürcher Diogenes-Verlag, waren nicht nur ein atmosphärischer Abstecher ins Los Angeles der 30er Jahre, sondern riefen uns auch wieder in Erinnerung, was für ein großartiger Stilist der neben Dashiell Hammett wichtigste Autor der Hardboiled-Ära gewesen ist. Übrigens sind alle sieben Marlowe-Romane jetzt in einer Kassette bei Diogenes erschienen. Für 55 Euro � zugreifen, kann man da nur sagen!
Klassikerstatus hat auch Ross Thomas (1926 � 1995), dessen Werk der Alexander Verlag betreut. Zuletzt wurde "Am Rand der Welt" (406 Seiten, 14,90 Euro) neu aufgelegt. Der 1986 ("Out on the Rim") erschienene Politthriller stellt Booth Stallings vor, einen alterndern Terrorismusexperten, der in der Washingtoner Geheimdienstbürokratie nicht mehr benötigt wird. Dafür bitten ihn dubiose amerikanische Geschäftsleute, einem Guerillaführer auf Cebu Geld zu bringen. Ihre wahren Motive bleiben im Dunkeln, nur so viel ist klar: "Niemand zahlt einem Geldboten jemals eine halbe Million, damit er fünf Millionen überbringt, es sei denn, das Geschäft ist dreckig." Da könnte man das Geld eigentlich selbst behalten, findet Stallings und holt sich mit dem Hochstapler Otherguy Overby einen gerissenen Kompagnon an Bord. Und weil das Ganze nicht ungefährlich sein dürfte, werden noch die Ex-Agenten Quincey Durant und Artie Wu angeheuert � die beiden kennen jeden schmutzigen Trick und arbeiten bekanntlich am liebsten auf eigene Rechnung ... Thomas zeigt sein ganzes Können: die Handlung voller Tempo, die Dialoge geschliffen, der Plot so komplex wie intelligent � Klasse.
Womit wir langsam zu den Verbrechern kommen. Von denen verstand Edward Bunker (1933 � 2005) viel, schließlich war er selbst von Berufs wegen Gangster gewesen, bevor das Schreiben ihn aus dem Teufelskreis von Knast und Kriminalität befreite. "Lockruf der Nacht" (Liebeskind, München 2009, 219 Seiten, 16,90 Euro) ist ein schmales Buch aus dem Nachlass, das erstmals 2007 ("Stark") erschien. Lakonisch wie eine Pulp-Novel der 50er Jahre erzählt es die Geschichte des kleinen Junkie-Ganoven und Polizeispitzels Ernie Stark, den ein rabiater Cop dazu zwingen will, seinen Dealer ans Messer zu liefern. Stark ist eine Ratte, skrupellos, hinterhältig und stets darauf aus, jedermann übers Ohr zu hauen. Natürlich sucht er auch dieses Mal seine große Chance. Doch Bunker ist zu klug, um Stark als eindimensionalen Charakter zu zeichnen: Immer wieder lässt er auch die andere Seite des Ernie Stark aufscheinen, den Romantiker, den Ästheten, den Menschen, der er sein könnte, wenn der Dschungel kein Dschungel wäre. Es ist ein Stück gute Literatur, das Bunker da in San Quentin geschrieben hat. Und mit einem wunderbar offenen Schluss, wie wir ihn lieben.
Wenn von Verbrechern die Rede ist, kann natürlich von Parker nicht geschwiegen werden. Erst recht, wenn endlich wieder ein neuer Roman mit ihm auf Deutsch vorliegt. Donald E. Westlakes (1933 � 2008) alias Richard Starks "Keiner rennt für immer" (Zsolnay, Wien 2009, 288 Seiten, 16,90 Euro) hört da auf, wo "Fragen Sie den Papagei" (Zsolnay, Wien 2008, 253 Seiten, 16,90 Euro) anfing: Wer Letzteres gelesen hat, weiß also schon, wie der Coup, den Parker mit zwei Gangsterkollegen ausheckt, ausgeht. Doch das schmälert Spannung und Lesevergnügen nicht. Denn den fusionsbedingten Umzug einer Kleinstadtbank dazu zu nutzen, millionenschwere Beute zu machen, das hat doch was. Das Problem sind natürlich wieder die Amateure: der eigensinnige Ex-Wachmann, von dem der Tipp stammt, die rachsüchtige Bankiersgattin, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hat, der sture Kopfgeldjäger, der kein Gespür für Timing hat � Einfach genial, wie es Stark gelingt, den Leser zum Komplizen seiner moralfreien Hauptfigur zu machen. Ganz zu schweigen von der Lakonie einer Prosa, die sich nur so charakterisieren lässt: Jeder Satz ein Treffer.
Zum Schluss nun aber etwas ganz Anderes. Ein Roman, so vertraut und doch so düster, dass es einem den Atem verschlägt. "Nebenan ein Mädchen" (Seeling, Frankfurt 2008, 111 Seiten, 10,80 Euro), das Debüt des in den USA lebenden Autors Stefan Kiesbye, spielt in einer kleinen norddeutschen Provinzstadt der 50er Jahre. Moritz, der Ich-Erzähler gehört den Dachsen an, einer von zwei rivalisierenden Jungenscliquen. Er erzählt vom Alltag eines Sommers, den eine immer bedrohlichere Atmosphäre umgibt. Die Revolte der pubertierenden Körper, das Erlebnis derber Sexualität, die Brutalität der Prügeleien, die kalte Oberflächlichkeit der Erwachsenen � der protokollartige Bericht des Halbwüchsigen lässt keinen Aspekt einer immer alptraumhafteren Normalität aus, die � man spürt es von Anfang an � in einer Katastrophe enden wird. Die stille Ruhe, mit der Kiesbye seinen Moritz von den sich steigernden Ungeheuerlichkeiten � Inzest, Missbrauch, Vernachlässigung, Entführung, Totschlag � erzählen lässt, steigert das Entsetzen nur noch, mit dem der Leser das Buch am Ende zuklappt. Kiesbyes Roman, der 2004 zuerst auf Englisch ("Next door lived a girl") erschien, ist ganz starke Prosa, komprimiert im Stil, unerbittlich in der Analyse.
Raymond Chandler:
The Big Sleep.
Berlin, Bertz + Fischer, 2008
MP3-CD, 370 Minuten, 19.90 Euro
Raymond Chandler:
Die Philip-Marlowe-Romane
Zürich, Diogenes Verlag, 2009 (detebe 23900)
1920 Seiten, 55.00 Euro
Edward Bunker:
Lockruf der Nacht.
München, Liebeskind Verlag, 2009,
219 Seiten, 16.90 Euro
Ross Thomas:
Am Rand der Welt.
Berlin, Alexander Verlag, 2008,
406 Seiten, 14.90 Euro
Richard Stark:
Keiner rennt für immer.
Wien, Zsolnay Verlag, 2008,
288 Seiten, 16.90 Euro
Stefan Kiesbye:
Nebenan ein Mädchen.
Frankfurt, Seeling Verlag, 2008,
111 Seiten, 10.80 Euro
Nach oben