Ulrich Kroegers Krimitipp
Die Krimikolumne
11/2008
Ein im Rollstuhl sitzender Ex-General beauftragt einen Detektiv, weil seine Tochter erpresst wird. Ein gefährlicher Job: Kaum, dass sich der Ermittler der Sache angenommen hat, stolpert er schon über die erste Leiche. Es geht nicht nur um Nacktfotos, auch Drogen, Glücksspiel und viel Geld sind im Spiel. Und dann hat der General noch eine zweite Tochter, die man in der Halbwelt von Los Angeles ebenfalls ganz gut kennt ... Wem das irgendwie bekannt vorkommt, hat Raymond Chandlers (1888 � 1959)
Hardboiledklassiker "Der große Schlaf" (Diogenes Taschenbuch, Zürich 2008, 200 Seiten, 6 Euro) gelesen oder eine seiner Verfilmungen mit Humphrey Bogart (1946, mit Lauren Bacall) oder Robert Mitchum (1979) gesehen. Jetzt kann man sich den ersten, 1939 erschienenen Roman mit dem schlagfertigen Melancholiker Philip Marlowe auch vorlesen lassen � im Original auf Englisch und ungekürzt. Elliott Goulds (Jahrgang 1938) Aufnahme von "The Big Sleep" (Bertz + Fischer, Berlin 2008, MP3-CD, 370 Minuten, 19,90 Euro) stellt sich als Glücksfall heraus � auch für den, der eigentlich lieber selbst liest. Der Schauspieler, der in Robert Altmans "Der Tod kennt keine Wiederkehr" (1973) Chandlers berühmten Detektiv schon auf der Leinwand verkörperte, hält sich mit seiner tiefen, unaufgeregten Stimme angenehm zurück. So erhält der Text die Chance, schon nach den ersten Sätzen aus sich selbst heraus zu wirken. Und wir können den großartigen Stilisten Chandler auf neue Weise entdecken. Wunderbar.
Einen großartigen Schriftsteller gibt es auch in Pete Dexter (Jahrgang 1943) zu entdecken. Sein 1988 in den USA mit dem National Book Award ausgezeichneter Roman "Paris Trout" (Liebeskind, München 2008, 415 Seiten, 22 Euro) spielt in den 50er Jahren. Paris Trout, ein Weißer in mittleren Jahren, betreibt einen kleinen Laden in einem Kaff irgendwo in Georgia. Er ist ein Mann, der nach seinen eigenen Regeln handelt. Erst recht, wenn ein Schwarzer seine Schulden nicht bezahlt. Doch als er ein 14-jähriges Mädchen über den Haufen schießt, stellt Trout verwundert fest, dass ihn ein Richter dafür zur Verantwortung ziehen will. Dass "die Gesetzesvorschriften bezüglich Mordes nicht zwischen den Rassen unterscheiden", verstößt für ihn schlicht gegen den "gesunden Menschenverstand". Und so etwas kann nicht gutgehen ... Dexter erklärt den Rassismus nicht, er zeigt ihn � in seiner ganzen trostlosen Banalität und seiner zerstörerischen Gewalt. Zugleich entfaltet er das sozialpsychologische Panorama einer in Schockstarre verharrenden Kleinstadt, wie es beängstigender nicht sein könnte. Auch deshalb bekommt man diesen Roman selbst als Vielleser und viele Bücher später nicht aus dem Kopf.
"Sie fragen sich immer noch, wer Ronny Lawtons Vater umgebracht hat? Genausogut könnten Sie sich fragen, welches spezifische Ereignis die Schließung unserer Fabriken und den Tod unserer Stadt zur Folge hatte", schreibt Michael Collins (Jahrgang 1964) im Epilog von "Tödliche Schlagzeilen" (btb, München 2008, 380 Seiten, 9 Euro). Wer den alten Mann auf dem Gewissen hat, wird am Ende dieses im Jahr 2000 unter dem Titel "The Keepers of Truth" erschienenen Romans tatsächlich nicht aufgeklärt. Collins� eigentliches Thema sind die Folgen des Niedergangs der amerikanischen Industriekultur in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, vorgestellt am Beispiel eines kleinen Städtchens im sogenannten Rust Belt zwischen Boston und Chicago, wo das Stampfen der Maschinen längst der Stille verrottender Fabrikareale gewichen ist. Auch die "Daily Truth", das örtliche Lokalblatt, steht vor dem Aus, weil die Leute keine Jobs mehr haben und wegziehen. Da kommt das rätselhafte Verschwinden des alten Lawton gerade recht, um ein letztes Mal Auflage zu machen. Zwei alte Zeitungsprofis erwarten die "tödlichen Schlagzeilen" vom Ich-Erzähler des Romans, einem Jungredakteur, der nach abgebrochenem Jurastudium sich nicht zwischen Ambition und Selbstmitleid entscheiden kann. So lässt er sich zu reißerischen Berichten verleiten und setzt eine am Ende auch für ihn selbst gefährliche Entwicklung in Gang, die in einem tödlichen Showdown kulminiert ... Noch im scheinbaren Happy End denunziert "Tödliche Schlagzeilen" das kleine Glück im Angesicht des großen Elends. Ein düsterer Roman über den Kapitalismus, schonungslos in der Analyse, meisterhaft in der Komposition, und nicht nur wegen der Krise anno 2008 hochaktuell.
Als reichten die vorgenannten Romane nicht aus, naiver Obama-Manie den Boden zu entziehen, zerstört Jerome Charyns schon 1999 erschienener Isaac-Sidel-Roman "Citizen Sidel" (Rotbuch, Berlin 2008, 188 Seiten, 16,90 Euro) die letzten Illusionen in das politisch-gesellschaftliche System der USA. Sidel ist eine schillernde Figur, halb böser Bulle, halb guter Gangster. Seine Karriere, eine spezielle Version des amerikanischen Tellerwäschermythos, führte vom einfachen Cop über den New Yorker Polizeiapparat ins Amt des Bürgermeisters. In seinem zehnten Roman schickt der 1937 in der Bronx geborene und heute in Paris lebende Autor Sidel ins Rennen um die Vizepräsidentschaft. Und wieder entfaltet Charyn das schon fast surreal anmutende Tableau einer Stadt, die nur eine Konstante zu kennen scheint: Intrigen, Korruption und Gewalt. Nur gut, dass Sidel wie stets seine Glock dabei hat, mit der er sich schon öfter aus scheinbar ausweglosen Situationen einen Weg gebahnt hat � Charyns Sidel-Saga ist ein chaotischer Kosmos, gnadenlos realistisch im Detail wie im großen Ganzen, doch imprägniert mit einer alles vordergründig Banale transzendierenden Magie. Wer ihr verfällt, lernt fürs Leben. Höchste Empfehlungsstufe!
Raymond Chandler:
Der große Schlaf
Zürich, Diogenes Verlag, 2008
141 Seiten, 7.95 Euro
Raymond Chandler:
The Big Sleep
Zürich, Bertz + Fischer Verlag, 2008
141 Seiten, 7.95 Euro
Pete Dexter:
Paris Trout.
München, Liebeskind Verlag, 2008
415 Seiten, 22.00 Euro
Michael Collins:
Tödliche Schlagzeilen
München, btb Verlag, 2008
380 Seiten, 9.00 Euro
Jerome Charyn:
Citizen Sidel.
Berlin, Rotbuch Verlag, 2008,
188 Seiten, 16.90 Euro
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