Die Alligatorpapiere


Ulrich Kroegers Krimitipp

Die Krimikolumne
5/2010


izzo-mein-marseille.jpg Eine wunderbare Lektüre für Südfrankreichurlauber und Krimifans gleichermaßen ist die Textsammlung "Mein Marseille" (95 Seiten, 7,90 Euro), die gerade im Zürcher Unionsverlag erschienen ist. Das schmale Büchlein enthält teils erstmals auf Deutsch erschienene Zeitungsartikel, Essays und Auszüge aus Romanen Jean-Claude Izzos (1945 � 2000). Izzo wurde vor allem bekannt durch seine mit Alain Delon verfilmte "Marseille-Trilogie" ("Total Cheops", "Chourmo", "Solea"), die seit dem vergangenen Jahr in einer preiswerten Gesamtausgabe ebenfalls im Unionsverlag (669 Seiten, 12,90 Euro) vorliegt. Izzos Ich-Erzähler, der seinen Dienst quittierende Bulle Fabio Montale, führt einen aussichtslosen Kampf gegen das globalisierte Verbrechen, das in Gestalt korrupter Politiker, skrupelloser Geschäftsleute und brutaler Gangster die neue Weltordnung bestimmt. Seiner skeptischen Weltsicht zum Trotz verströmen Izzos Bücher die betörenden Düfte der alten Hafenmetropole, schwelgen in sinnlichen Eindrücken und bersten vor auftrumpfendem Lebenswillen. Oder, um es mit Izzos eigenen Worten zu sagen: "Esst Knoblauch und trinkt Wein, um alle blutsaugerischen Vampire zu bekämpfen, die uns unsere Energie stehlen, die unsere Gehirne leeren und unsere Herzen austrocknen."

ulrichkroeger-krimi-tipp

bronski-nackige-engel.jpg Eine andere Variante widerständiger Heimatliteratur finden wir in Max Bronskis Gossec-Romanen.
Dieser Gossec nämlich könnte mit seinem Trödelladen im Münchner Schlachthofviertel sicherlich ein beschauliches Auskommen finden, wenn seine unangepasste Geisteshaltung ihn nicht immer wieder in Schwierigkeiten brächte. "Ein grober Klotz, aber voller Empfindsamkeit. Einer, der das Gute wollte, aber Unheil anrichtete. Ein Kerl, der keinen Irrweg ausließ, aber dennoch ein wertvoller Mensch." Kurz: Dieser Gossec ist einfach zu gut, um der Schlechtigkeit der Welt den Rücken zu kehren. Vor allem dass das Nazipack sich schon wieder zu zeigen wagt, geht ihm gegen den Strich, und auch von der biederen Nachbarschaft hält er nicht viel. "Würde Hitler heute durch München marschieren, würde der überwiegende Teil der Passanten wieder den rechten Arm hochrecken", glaubt Gossec. Was er dann im Selbstversuch als "Führer" verkleidet zu beweisen sucht � und dabei beinahe Ärger mit einer Horde Neonazis bekommt. Gossec kann zwar unerkannt entkommen, doch dafür liegt der Kabarettist Wolfertshofer, dem das schräge Street-Happening in der Boulevardpresse angelastet wird, wenig später tot in seiner Wohnung. Bronskis � der Name ist Pseudonym, die Identität des Autors geheim � vierter Kriminalroman "Nackige Engel" (Kunstmann, München 2010, 206 Seiten, 16,90 Euro) kommt bei allem Weißbiergenuss seiner Protagonisten nicht bierernst daher, enthält sich aber schenkelschlagenden Herumalberns. Dafür würzen feine Ironie und auch etwas Melancholie eine atmosphärisch dichte und in lakonisch-knappem Stil erzählte Geschichte. Beste Unterhaltung also auf hohem Niveau � das muss man erst mal können.


ulrichkroeger-krimi-tipp


heim-totenkuss.jpg "Nachts verlor die Wohngegend ihre Gediegenheit; sie vergaß ihr Versprechen von gutbürgerlichem Wohlsein. Aus der heilen Welt wurde eine unheilvolle Randlage, eine abseitige Struktur, die überaltert war und schon bessere Zeiten gesehen hatte. Unversehens fand man sich wieder in einer schutzlosen, verlorenen und trostarmen Umgebung, voller Selbstzweifel und Brüche, inmitten einer schleichenden, stummen Verwahrlosung." Es gibt nur wenige, die so konzis Orte, Personen, Stimmungen zu durchdringen vermögen wie Uta-Maria Heim. Die 1963 geborene Autorin hielt sich noch nie mit der Beschreibung des Vordergründigen auf, ihr Interesse galt stets dem, was unter der Oberfläche, hinter der Fassade und durch das Verschweigen verborgen werden soll. Dabei verschränkt sie das Grauen der NS-Vergangenheit mit der Borniertheit der schwäbischen Provinz und dem revolutionären Furor der RAF-Dekade. Das gilt auch für ihren jüngsten Kriminalroman "Totenkuss" (Gmeiner, Meßkirch 2010, 279 Seiten, 9,80 Euro). Das Panorama reicht hier vom ehemaligen Hochsicherheitsknast in Stuttgart-Stammheim über die von Kreuzottern durchzischte Idylle des Schwarzwalds bis zur Aussteiger-Tristesse in der Toskana. Die Handlung? Die Handlung ist so komplex, dass sie sich nicht nacherzählen lässt. Nur so viel: Es geht um einen lange zurückliegenden Mädchenmord, die Hatz auf einen ausgebrochenen Serientäter und eine ganze Reihe dunkler Geheimnisse. "Totenkuss" ist ein fulminantes Buch, sprachlich opulent, aber ohne jede Redundanz � einfach große Literatur.


ulrichkroeger-krimi-tipp


lilin-sibirische-erziehung.jpg Auch in Nicolai Lilins autobiographischem Buch "Sibirische Erziehung" (Suhrkamp, Berlin 2010, 453 Seiten, 14,90 Euro) geht es um Heimat. Eine Heimat allerdings, die unwiederbringlich verloren ist. Denn die traditionelle Verbrechergemeinschaft der "Urki", unter Stalin einst aus dem schwer kontrollierbaren Osten Russlands ins moldawische Transnistrien zwangsumgesiedelt, existiert nicht mehr. Wurde zerrieben in den Auflösungsprozessen der untergegangenen Sowjetunion, aus denen ein Gangstertum neuer Art hervorging � ohne archaische Rituale und moralischen Ehrenkodex. Bandenkriege, Knastalltag und die große Bedeutung der Tätowierung im russischen Untergrund: Der 30-jährige, heute in Italien lebende Lilin gewährt uns einen tiefen Blick in die russische Seele. Beeindruckend. ulrichkroeger-krimi-tipp


izzo-mein-marseille Jean-Claude Izzo:
Mein Marseille.

Zürich, Unionsverlag, 2010
95 Seiten, 7.90 Euro

bronski-nackige-engel.jpg Max Bronski:
Nackige Engel.

München, Kunstmann Verlag, 2010,
206 Seiten, 16.90 Euro

heim-totenkuss Uta-Maria Heim:
Totenkuss.

Meßkirch, Gmeiner Verlag, 2010,
279 Seiten, 9.80 Euro

lilin-sibirische-erziehung.jpg Nicolai Lilin
Sibirische Erziehung

Berlin, Suhrkamp Verlag, 2010,
453 Seiten, 14.90 Euro

Nach oben


Ulrich Kroegers Krimitipp
Eine Kolumne

Ein Service der Alligatorpapiere
im
NordPark Verlag
Alfred Miersch
Klingelholl 53
42281 Wuppertal
Tel.:0202/51 10 89

Kontakt






Ulrich Kroegers Krimitipps: Index
News    |   Sitemap |   Aufsätze,Interviews & Kolumnen

Ulrich Kroegers erster Krimitipp erschien erschien Anfang 2001. Damals war in Bremerhaven Kriminalliteratur – zumindest in der Zeitung – kein Thema, und niemand dachte daran, eine auf Dauer angelegte Kolumne zu etablieren. Es kam zum Glück anders. Heute erscheint Ulrich Kroegers Krimitipp einmal im Monat im Sonntagsjournal der "Nordsee-Zeitung", dessen Redaktion wir für die Genehmigung zur Veröffentlichung und Archivierung bei den Alligatorpapieren danken. Zum Konzept der Kolumne gehört, dass auf Verrisse zugunsten von Leseempfehlungen verzichtet wird. Zudem beschränken sich die Besprechungen in der Regel auf Taschenbücher und Paperbacks, einer publizistischen Tradition des Kriminalromans folgend und eingedenk der begrenzten finanziellen Spielräume vieler Leser – nicht nur in einer von Arbeitslosigkeit gebeutelten Hafen- und Industriestadt.

Der Autor, Jahrgang 1956, Studium (Politologie, Sozialwissenschaften, Geschichte) in Braunschweig und Bremen, arbeitete als Produktionshelfer, Nachhilfelehrer, Sozialarbeiter und fristet seit Mitte der 90er Jahre als freier Journalist und Redakteur sein Dasein. Er liebt die Küste, hört "WBGO Jazz88.3 FM," trinkt Scotch, spielt Mah Jongg und fiebert für Werder. Doch die meiste Freizeit verbringt er mit – na, Sie wissen schon!
kroeger-logo.gif