Ulrich Kroegers Krimitipp
Die Krimikolumne
9/2010
Zunächst ein Hinweis in eigener Sache: "Kroegers Crime Corner at George's" ging an den Start. Am 6. Oktober um 21.30 Uhr war es so weit: Wir lasen aus einem oder zwei Büchern vor, die wir Ihnen hier vorstellen. Eine halbe Stunde Kriminalliteratur in nettem Ambiente und bei guten Getränken � wem das zusagt, war herzlich eingeladen vorbeizuschauen. Und wenn�s Spaß macht, wiederholen wir das künftig an jedem ersten Mittwoch im Monat. Wo? Natürlich nur in Bremerhavens coolster Jazzbar: "George's", Alte Bürger 159.
Nun aber zu den Büchern. Argentinien war in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Anlass für manch einen Verlag, Romane übersetzen zu lassen, die sonst wahrscheinlich keinen Zugang zum deutschen Buchmarkt gefunden hätten. Das dürfte auch für Marcelo Figueras' "Der Spion der Zeit" (Nagel & Kimche, München 2010, 282 Seiten, 19,90 Euro, Original: "El espía del tiempo", 2002) gelten. Der 1962 in Buenos Aires geborene Autor versucht sich wie viele seiner argentinischen Kollegen an einer Aufarbeitung der Schreckensjahre der Militärdiktatur, die das südamerikanische Land vor allem in den späten 70ern mit Folter, Mord und Terror überzog und an die 30.000 Menschen einfach "verschwinden" ließ. Doch statt sich explizit auf seine Heimat und die historischen Fakten zu beziehen, macht Figueras das fiktive Land "Trinidad" zum Schauplatz � nicht ohne mit dem Zaunpfahl darauf hinzuweisen, dass natürlich Argentinien gemeint ist. Der Krimiplot dient dabei im Grunde nur dazu, um die Anklage zu transportieren: In "Trinidad" werden die für die Verbrechen der Junta veranwortlichen Spitzenmilitärs nach dem Sturz des Regimes nicht zur Verantwortung gezogen. Stattdessen sonnen sich die Generäle im Schutze einer Amnestie und genießen obendrein die Beute ihrer kriminellen Raubzüge in vollen Zügen. Bis einem unbekannten Racheengel der Kragen platzt und ein Juntamitglied nach dem anderen auf teils wirklich bizarre Weise umbringt. Stoppen soll die Mordserie ein Ermittler, der sich während der Diktatur in den Wahnsinn flüchtete und deshalb heute als unbelastet gilt ... "Der Spion der Zeit" ist ein Beispiel dafür, dass die Funktionalisierung des Krimigenres zugunsten aufklärerischer Intention immer eine heikle Sache ist. Nicht, dass der Roman komplett misslungen wäre � Figueras konfrontiert den Leser eindringlich mit grundlegenden Ethikfragen � aber die Handlung wirkt bisweilen doch sehr konstruiert. Schade, aus dem Thema hätte man mehr machen können.
Eine ganze Menge hat
Derek Nikitas aus verschiedenen Facetten der amerikanischen Gegenwartsliteratur gemacht. Eine gehörige Portion Noir und Elemente des suburbanen Familienthrillers amalgamiert der im Staate New York aufgewachsene Nachwuchsautor in seinem Debütroman "Scheiterhaufen" (Seeling, Frankfurt 2010, 365 Seiten, 15 Euro, Original: "Pyres", 2007) zu einer Coming-of-age-Story der besonderen Art. Hauptfigur des für den renommierten Edgar Award nominierten Romans ist ein 15-jähriges Mädchen, das auf dem Rücksitz des Familienautos miterleben muss, wie ihr am Steuer sitzender Vater erschossen wird. Der Mord ist nur der Beginn einer düsteren Verkettung von Lebensumständen, die unterschiedlicher nicht sein könnten � bis hin zur Konfrontation mit dem Bösen schlechthin in Gestalt einer wirklich üblen Bikergang. Binnen weniger Tage zerfallen für Lucia alle Gewissheiten einer behüteten Kindheit, und der anfangs im Punklook gegen die Welt der Erwachsenen aufbegehrende Teenager muss einen wahren Alptraum an Betrug, Enttäuschungen und Grausamkeit durchstehen, um im Zeitraffer selbst erwachsen zu werden und ihr Leben am Ende aus eigener Kraft zu retten. �Scheiterhaufen� ist ein erstaunlich reifes Debüt, deren starken, vor allem weiblichen Charakteren der Leser bei ihrem Abstieg in die Hölle sehr nahe kommt. Dass die Handlung bis zum Schluss immer wieder durch neue Wendungen überrascht, ohne dadurch überdreht oder unglaubwürdig zu wirken, zeigt die Erfahrung des Autors mit der Produktion von Drehbüchern. Sollte Nikitas dieses Niveau in seinen nächsten Romanen halten, haben wir einen neuen Lieblingsautor.
Ein Lieblingsautor ist der leider Ende 2008 verstorbene
Donald E. Westlake für uns schon lange. Nicht zuletzt deshalb, weil er unter dem Pseudonym
Richard Stark die grandiose Parker-Serie geschrieben hat, deren letzte Bände seit ein paar Jahren bei Zsolnay erscheinen � merkwürdigerweise nicht in chronologischer Reihenfolge, aber die Bücher lassen sich zum Glück auch als Standalones lesen. Gerade ist nach "Fragen Sie den Papagei", "Der Gewinner geht leer aus" und "Das große Gold" ein neuer Roman mit dem vermutlich abgebrühtesten Berufsverbrecher der Literaturgeschichte erschienen � ebenso lakonisch und auf den Punkt geschrieben wie alle anderen. "Irgendwann gibt jeder auf" (Wien 2010, 269 Seiten, 16,90 Euro, Original: "Flashfire", 2000) lautet der Titel, und man möchte eigentlich ergänzen: "Nur Parker nicht". Jedenfalls nimmt er es nicht hin, als ihm drei andere Gangster nach einem erfolgreichen Job seinen Anteil vorenthalten, weil das Geld als Anschubfinanzierung für einen richtig großen Coup in Palm Beach dienen soll. So etwas macht man nicht mit Parker � klar, dass er sich das Geld zurückholen will. Doch in diesem Gewerbe geht nur selten etwas glatt, und diesmal kommt�s sogar ganz dicke: Am Ende muss sich Parker, diese Inkarnation professioneller Coolness, sogar von der Polizei befreien lassen � doch lesen Sie doch einfach selbst!
Den neuesten Band der "Criminal"-Serie von Ed Brubaker und Sean Phillips ("Sünder", Panini, Stuttgart 2010, 16,95, Original: "The Sinners", 2010) leitet ein Vorwort Ian Rankins ein. Darin zitiert der John-Rebus-Schöpfer einen amerikanischen Kritiker mit folgender Definition des Noir: "Harte Detektive, brutale Cops, Gangster, Kleinkriminelle, verrückte Killer, Männer auf der Flucht, femmes fatales und (seit Mitte der 40er) vom Krieg gezeichnete Veteranen, deren Schicksal sich in den engen Wohnungen und auf den anonymen Straßen der Stadt erfüllt. Sie alle sind typischerweise verwirrt, ängstlich oder besessen, (...) und typischerweise endet alles im Desaster." All das gelte auch für diesen großartig gezeichneten Comic, dessen Held mit dem sprechenden Namen � "Tracy Lawless war der schlechteste Killer der Welt" � eigentlich ebenfalls scheitern müsse. "Wir wollen nicht, dass er scheitert", schreibt Rankin, "doch wir wissen, dass er scheitern muss. Es ist eine der Spielregeln. Andererseits � und Lawless würde wohl beipflichten � sind Regeln dazu da, um gebrochen zu werden." Herzlichen Dank, Mister Rankin, besser hätten wir das nicht formulieren können.
Marcelo Figueras:
Der Spion der Zeit.
München, Nagel & Kimche, 2010
282 Seiten, 19.90 Euro
Derek Nikitas:
Scheiterhaufen.
Frankfurt, Seeling Verlag, 2010,
365 Seiten, 15.00 Euro
Richard Stark:
Irgendwann gibt jeder auf.
Wien, Zsolnay Verlag, 2010,
269 Seiten, 16.90 Euro
Ed Brubaker und Sean Phillips
Sünder
Stuttgart, Panini Verlag, 2010,
94 Seiten, 16.95 Euro
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