Ulrich Kroegers Krimitipp
Die Krimikolumne
10/2009
"Wenn man eine Grundannahme moderner Kriminalliteratur akzeptiert, dass nämlich unsere Gesellschaft und wahrscheinlich alle Gesellschaften auf Verbrechen fußen, justiziablen und nicht justiziablen, dann bleibt einem eigentlich nur der Krimi, um die Gesellschaft zu beschreiben", konstatierte Dieter Paul Rudolph (Jahrgang 1955) mal in seinem Blog "Watching the detectives" (
hinternet.de/weblog/). Diesem Credo ist der Krimikritiker nach seinem Romandebüt ("Menschenfreunde") nun schon zum zweiten Mal gefolgt: Es geht um "Arme Leute" (Conte, Saarbrücken 2009, 205 Seiten, 12,90 Euro), und die Armut hängt nicht nur vom Kontostand ab. Schauplatz ist eine fiktive Kleinstadt, deren Idylle � klar! � trügt: Es gibt Hass, Tote, und ein Ohr wird abgeschnitten. Eine bis in Jugendtage zurückreichende Story, erzählt der Reihe nach, aber nicht chronologisch vom "Ohrabschneider", seinem "Flittchen" und dem "Idioten". Mimis seien gewarnt: "Arme Leute" ist anspruchsvolle Lektüre � voller Stil, voller Witz, und oft richtig schmutzig.
Stil, Witz und kernige Dialoge hat auch Ken Bruen (Jahrgang 1951) zu bieten. Und zwar in solchem Maße, dass Kultautor und Übersetzer Harry Rowohlt schon am nächsten Bruen-Band arbeitet. Erst mal aber heißt es: "�Jack Taylor fliegt raus" (Atrium, Zürich 2009, 302 Seiten, 16 Euro, Original: "The Guards", 2001). Zum Glück nicht aus seiner Stammkneipe � im "Grogan's" werden ihm die Pints zunächst noch unaufgefordert auf den Tresen gestellt. Nein, Taylor muss den Polizeidienst in Bruens westirischer Heimatstadt Galway quittieren, nachdem er einem Politiker eine runtergehauen hat, der meinte, Straßenverkehrsregeln würden für Leute wie ihn nicht gelten. Taylor nimmt's gelassen, schließlich hat er nun noch mehr Zeit zum Saufen. Davon hält den mittlerweile inoffiziell � Iren mögen aus Prinzip keine Schnüffler � als Privatdetektiv arbeitenden Ex-Cop erst mal auch die Bitte einer Mutter nicht ab, den mysteriösen Tod ihrer Tochter zu untersuchen. Ein Fall, der so nebenher aufgeklärt wird � viel wichtiger ist Taylor selbst, seine Traurigkeit, seine Sucht, sein Überleben.
Wo wir schon bei den traurigen P.I.s sind, jenen Trinkern mit dem unbestechlichen Sinn für Gerechtigkeit und dem naiven, oft in Zynismus mündenden Leiden an der Gesellschaft, können wir uns � Leser dieser Kolumne ahnen es � einen Verweis auf Philip Marlowe nicht verkneifen. Zu den besten Marlowe-Romanen von Altmeister Raymond Chandler (1888 � 1959) zählt "Die Tote im See" (Diogenes Taschenbuch, Zürich 2009, 272 Seiten, 9,90 Euro, Original: "The Lady in the Lake", 1943). Marlowe soll nach einer Frau suchen, die ihrem schwerreichen Ehemann aus El Paso geschrieben hat, sich scheiden lassen und in Mexiko ihren jungen Liebhaber heiraten zu wollen. Nur dass der von diesen Plänen nichts gewusst haben will, als er dem Noch-Ehemann auf der Straße über den Weg läuft ... Chandlers brillanter Stil ist unübertroffen � das betrifft die Lakonie seiner Sätze wie die knappe, aber treffende Zeichnung der Charaktere. Seinen Büchern gebührt in jeder guten Krimibibliothek ein Ehrenplatz, denn man liest sie nicht nur einmal. Cheers, Mr. Marlowe.
"Jede Handlung reifer Kindlichkeit war ein winziges Meißeln am höchsten Berg europäischer Verschwendung, an dem Everest vergeudeter Jugend." Mit solchen Sätzen, hier bezogen auf die Kriegsgenerationen des 20. Jahrhunderts, erfreut uns der britische Autor Reginald Hill (Jahrgang 1936). Von den 18, längst nicht komplett ins Deutsche übertragenen, aber auch außerhalb der Chronologie gut lesbaren Romanen um das Ermittlergespann Andy Dalziel und Peter Pascoe von der Yorkshire Police erschien zuletzt "Der Wald des Vergessens" (Knaur Taschenbuch, München 2009, 607 Seiten, 8,95 Euro, Original: "The Wood Beyond", 1996). Der Fund menschlicher Gebeine und eines deformierten Totenschädels im Schlamm des Sicherheitssektors vor einem Pharmalabor im Nordosten Englands ist Ausgangspunkt eines geschickt Gegenwart und Vergangenheit verknüpfenden und dabei stets spannenden Plots. Wie Hill einen Bogen vom Protest gegen Tierversuche zu den Hinrichtungen britischer Soldaten im Ersten Weltkrieg schlägt, ist intelligente Unterhaltung auf hohem Niveau.
Zum Schluss nun ein Buch, das wir in seiner schon fast perfiden Raffinesse als vorläufigen Höhepunkt des diesjährigen Krimischaffens preisen: "Totengleich" (Scherz, Frankfurt 2009, 780 Seiten, 16,95 Euro, Original: "The Likeness", 2008) der am Trinity College in Dublin ausgebildeten Amerikanerin Tana French (Jahrgang 1973) ist ein Meisterwerk psychologisch fundierten Thrills. Thematisch baut der Kriminalroman auf Frenchs mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis ausgezeichneten Erstling "Grabesgrün" auf, in dem eine Ermittlung dramatisch scheitert, weil ein Kindheitstrauma Cassie Maddox' Partner zu eklatanten Fehlentscheidungen verleitet. Die junge Kriminalpolizistin ließ sich daraufhin zum Dezernat für Häusliche Gewalt versetzen � eine Fluchtreaktion, mit der sie noch lange nicht fertig ist. Als die Leiche einer Frau gefunden wird, die Cassie wie aus dem Gesicht geschnitten ist, täuscht die Polizei vor, die Literaturstudentin habe den Mordversuch überlebt, und schleust Cassie in einem Undercovereinsatz in die Wohngemeinschaft der Toten ein ...
Dieter Paul Rudolph:
Arme Leute.
Saarbrücken, Conte Verlag, 2009,
205 Seiten, 12.90 Euro
Ken Bruen:
Jack Taylor fliegt raus
Zürich , Atrium Verlag, 2009
302 Seiten, 16.00 Euro
Raymond Chandler:
Die Tote im See.
Zürich, Diogenes Verlag, 2009,
272 Seiten, 9.90 Euro
Reginald Hill:
Der Wald des Vergessens.
München, Knaur Verlag, 2009,
607 Seiten, 8.95 Euro
Tana French:
Totengleich.
Frankfurt, Scherz Verlag, 2009,
780 Seiten, 16.95 Euro
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