Die Alligatorpapiere


Ulrich Kroegers Krimitipp

Die Krimikolumne
10/2010



friedman-zehn-kleine-ney-yorker Er trägt Cowboyhüte, raucht Havannas und ist nie um einen sarkastischen Witz verlegen. Als Countrysänger ("They Ain�t Making Jews Like Jesus Anymore") brachte er tumbe Rednecks und radikale Feministinnen gegen sich auf, als Kandidat für das Amt des Gouverneurs von Texas ("Wählt mich! Mir könnt Ihr vertrauen, ich bin Jude."�) irritierte er Konservative und Liberale gleichermaßen. Und er ist wohl der einzige Schriftsteller, der sich selbst zur Hauptfigur einer Serie von 17 herrlich schrägen Kriminalromanen machte. Kinky Friedman, Jahrgang 1944, ist ein �fröhlicher Anarchist�, so sein Hamburger Verleger Klaus Bittermann. Ein nonkonformistischer Überlebenskünstler und literarischer Hobo, der weiß, �dass die fiktionale und die nicht-fiktionale Welt überlappende Welten sind, in denen vieles, was die nicht-fiktionale Welt umfasst, nicht stimmen mag und vieles, was die Welt der Fiktion ausmacht, tatsächlich stimmen kann, wenn der Leser weiß, wie man zwischen den Zeilen liest (...) Und so kam es, dass ich zwischen diesen beiden Welten auf die Weise navigierte, wie ich es die meiste Zeit meines Lebens getan hatte ...", klärt uns der Autor am Ende seines bedauerlicherweise letzten Kinkster-Romans "Zehn kleine New Yorker" (Edition Tiamat, Hamburg 2010, 207 Seiten, 15 Euro; Original: "Ten Little New Yorkers", 2005) über das Verhältnis zwischen der real existierenden Person Kinky Friedman und dem gleichnamigen Privatdetektiv seiner Romane auf. Dabei kommt es weniger denn je auf den Plot an, auf Action gar oder den viel beschworenen Spannungsbogen. Stattdessen genießen wir ein letztes Mal die sehr spezielle Atmosphäre der "Kinkster"-Welt im New Yorker Greenwich Village, freuen uns über abgründig schlitzohrige Dialoge und applaudieren wehmütig einem Abgang, der trotz seiner Anspielung auf Sherlock Holmes� Tod an den Reichenbachfällen nur wenig Hoffnung auf Rückkehr lässt.

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goehre-der-auserwaehlte "Der Auserwählte" (Pendragon, Bielefeld 2010, 258 Seiten, 9,95 Euro), ist weg. Der Sohn einer Hamburger Konzernchefin ist aber nicht einfach verschwunden und ins Hippieparadies Gomera abgehauen wie 20 Jahre zuvor seine damals noch flippige Mutter � er wurde nach einer Koksparty Winterhuder Abiturienten entführt. Ein Verbrechen, dessen Hintergrund der Hamburger Autor Frank Göhre (Jahrgang 1943) in den späten 80er Jahren ansiedelt. Einer Zeit, in der sich Sektengurus über dope-betäubte Bürgerkinder hermachten, die "sexuelle Befreiung" der 68er zum Missbrauch Minderjähriger nutzten und dabei nicht selten auch materiell ihre Schäfchen ins Trockene brachten. "Übereinstimmungen mit Personen und Vorkommnissen auf Gomera und anderswo sind beabsichtigt, aber dennoch fiktiv", schreibt der Autor � Insider wissen also, wer gemeint ist. Bemerkenswert unaufgeregt gelingt es Göhre in seinem gekonnt zwischen Gegenwart und Vergangenheit pendelnden Roman auch, das aktuelle Elend illegaler Armutsflüchtlinge aus Afrika zu thematisieren, die über die Kanaren und das spanische Festland bis ins nasskalte Hamburg finden. Dass er dabei ohne moralischen Zeigefinger auskommt, schätzen wir an diesem Autor besonders. Göhre lässt seine Figuren handeln, ohne alles groß und umständlich erklären zu müssen. Denken kann der Leser ja schließlich selber.

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winslow-tage-der-toten Anders als die vorgenannten Romane ist "Tage der Toten" (Suhrkamp, Berlin 2010, 689 Seiten, 14,95 Euro; Original "The Power of the Dog", 2005) ein monumentales Werk � nicht nur vom Umfang her, sondern auch von seiner Bedeutung als einem Stück erzählender Geschichtsschreibung. Der 1953 geborene New Yorker Don Winslow geht nichts Geringerem als dem Jahrzehnte andauernden "War on Drugs" der USA nach, der zumindest in der Vergangenheit nur allzu oft von den zwanghaften Counterinsurgency-Reflexen der Washingtoner Bürokratie und ihrer Geheimdienste überlagert oder sogar konterkariert wurde. Ein Krieg, den der Ex-GI und jetztige DEA-Cop Art Keller, selbst ein halber Latino, zu seinem ganz persönlichen Anliegen macht � denn die Paten der mexikanischen Drogenmafia kennt er quasi als Familienmitglieder. Der zeitliche Horizont erstreckt sich von den 70ern bis in die Gegenwart, geografisch konzentriert sich die Handlung auf die durchlässige Grenze zwischen Kalifornien und Mexiko, aber auch Abstecher ins Kolumbien der Koksbarone und der FARC-Guerilla oder ins irische Ghetto von Hell�s Kitchen in New York runden das souverän aufgebaute Tableau ab. Ein gewaltiger Roman, geschrieben mit dem unterkühlten Furor eines Mannes, der Klartext reden will. Und Pflichtlektüre für alle, die die Wahrheit wissen wollen.

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jacamon-matz-die-gemeinschaft-der-sterblichen Wer die französische Schule der Bande Dessinée dem angelsächsischen Graphic Novel vorzieht, dürfte die grandiose "Der Killer"-Serie von Luc Jacamon und Matz sowieso im Regal haben. Allen anderen Comic-Liebhabern, die die Geschichte des ständig sein Metier reflektierenden Auftragsmörders noch nicht kennen, seien die mittlerweile sieben als Hardcovers gebundenen großformatigen Bände wärmstens empfohlen. In Band 7 "Die Gemeinschaft der Sterblichen" (Ehapa, Köln 2010, 56 Seiten, 12 Euro; Original "Le commun des mortels", 2009) treffen wir den Killer, der sich zwischenzeitlich in Venezuela verkrochen hatte, in Kuba an. Mit einer finalen Mission natürlich, doch irgendetwas stimmt mit dem neuen Job nicht ...


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friedman-zehn-kleine-ney-yorker Kinky Friedman:
Zehn kleine New Yorker.

Hamburg, Edition Tiamat, 2010
207 Seiten, 15.00 Euro

goehre-der-auserwaehlte Frank Göhre:
Der Auserwählte.

Bielefeld, Pendragon Verlag, 2010,
258 Seiten, 9.95 Euro

winslow-tage-der-toten Don Winslow :
Tage der Toten.

Berlin , Suhrkamp Verlag, 2010,
689 Seiten, 14.95 Euro

jacamon-matz-die-gemeinschaft-der-sterblichen Luc Jacamon und Matz
Die Gemeinschaft der Sterblichen

Köln, Ehapa Verlag, 2010,
56 Seiten, 12.00 Euro

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Ulrich Kroegers Krimitipp
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Ulrich Kroegers erster Krimitipp erschien erschien Anfang 2001. Damals war in Bremerhaven Kriminalliteratur – zumindest in der Zeitung – kein Thema, und niemand dachte daran, eine auf Dauer angelegte Kolumne zu etablieren. Es kam zum Glück anders. Heute erscheint Ulrich Kroegers Krimitipp einmal im Monat im Sonntagsjournal der "Nordsee-Zeitung", dessen Redaktion wir für die Genehmigung zur Veröffentlichung und Archivierung bei den Alligatorpapieren danken. Zum Konzept der Kolumne gehört, dass auf Verrisse zugunsten von Leseempfehlungen verzichtet wird. Zudem beschränken sich die Besprechungen in der Regel auf Taschenbücher und Paperbacks, einer publizistischen Tradition des Kriminalromans folgend und eingedenk der begrenzten finanziellen Spielräume vieler Leser – nicht nur in einer von Arbeitslosigkeit gebeutelten Hafen- und Industriestadt.

Der Autor, Jahrgang 1956, Studium (Politologie, Sozialwissenschaften, Geschichte) in Braunschweig und Bremen, arbeitete als Produktionshelfer, Nachhilfelehrer, Sozialarbeiter und fristet seit Mitte der 90er Jahre als freier Journalist und Redakteur sein Dasein. Er liebt die Küste, hört "WBGO Jazz88.3 FM," trinkt Scotch, spielt Mah Jongg und fiebert für Werder. Doch die meiste Freizeit verbringt er mit – na, Sie wissen schon!
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