Zielfahndung.
Stefan Lichtblaus sehr persönliche Betrachtungen eines Genres.
Dick Francis ist einer der wenigen Autoren, die über eine Strecke von 40 Büchern ihre Qualität nicht nur gehalten, sondern sogar gesteigert haben.
Das ist um so erstaunlicher, da Francis eine Untergattung des Genres geschaffen hat, in dessen Rahmen er sich fast ausschließlich bewegt - den Pferde-Rennsport-Krimi.
Nun ist das ein Umfeld, in dem Francis, der ehemals Pferde der Queen-Mum geritten hat, sich besonders gut auskennt und in dem die speziellen englischen Klassenschranken besonders auffällig zur Geltung kommen. Klassenschranken und Klassendünkel, die andere Autoren wie z.B. Derek Raymond stigmatisiert und radikalisiert haben, die Dick Francis jedoch als Handlungsspielraum ausgiebig nutzt, ohne gesellschaftliche oder politische Fragen anzureißen.
Das ist die eigentliche Krux in der Francis-Welt: sie kennt nur gut und böse, das aber in jeder gesellschaftlichen Schicht. Die Welt des Dick Francis ist konservativ, sie stimmt in sich, die Menschen in ihr sind eigentlich zufrieden, bräche nicht das Böse ein in Gestalt machthungriger oder geldgieriger Ganoven. Gesellschaftliche Ursachen für Verbrechen, Infragestellung von Klassenschranken oder zementierten Hierarchien finden bei Francis nicht statt - brächten auch sein Weltbild ins Wanken - strebte Francis doch selbst den Sprung in die obere Abteilung des Establishments an.
In diesem Kontext bewegt Francis sich jedoch mit erstaunlicher Effektivität. So sehr seine Bücher auch geprägt sind von wiederkehrenden Stereotypen (alle Helden leben mit einem Handicap, kranken, verstorbenen oder geschiedenen Ehefrauen, familiärer Ablehnung oder anderen Traumata, die dem allzu glatten Heldenbild entgegenwirken sollen; das Maximum an literarischer Brechung, die Francis leisten kann - oder will), seine Meisterleistung liegt darin, diese Helden mit echter Vita auszustatten und in gründlich recherchierten und glänzend dargestellten Berufen in ihre Katastrophen laufen zu lassen, die der Held nicht ohne Blessuren und Schäden zu überstehen hat.
Francis Bücher sind in höchstem Maße spannend und zeigen trotz aller zu kritisierenden wiederkehrenden Motive eine schriftstellerische Entwicklung zu differenzierterem Erzählen, die bei seinen frühen, hölzern und simpel gestrickten Romanen nicht zu erwarten war. In seinen besten Momenten gelingt es Francis, mit wenigen Strichen Charakter zu skizzieren, die keinesfalls holzschnittartig wirken und Romanhandlungen mit glaubhaften Figuren zu füllen und sie stimmig und konsequent bis zum Ende zu führen. Das machte ihn zu einem der guten Autoren der Spannungsliteratur, zu einem Bestseller mit Schmökergarantie.
Leider fehlte ihm der Mut, um zu einem großen Kriminalschriftsteller werden zu können. Der Mut, die Grenzen der Gattung und des Genres zu überschreiten und Erwartungshaltungen zu enttäuschen. Besonders deutlich wird das in einem seiner besten, weil überraschendsten Bücher: Reflex.
Überraschend, weil Francis hier eine Menge Zeit und Hingabe in die Gestaltung eines bösen Helden investiert zu haben scheint, eine Charakterzeichnung, die man sich öfter für die bösen Gegenspieler der Francis-Helden gewünscht hätte. Die Verwunderung seiner Leser muß ob dieser erstaunlich vielschichtigen Strecke des Buches groß gewesen sein, tatsächlich mag sogar Verwirrung entstanden sein, da zu vermuten war, daß Francis von seiner geliebten und eingespielten Schablone abgerückt zu sein schien, um dem Bösen plötzlich Tiefe verleihen zu wollen.
Um so größer ist die Enttäuschung, als Francis dieser schillerndsten Figur seines Ganovenpanoptikums, dieser in seiner Bösartigkeit menschlich wirkenden Figur zu einer Lichtgestalt des Gutmenschen werden läßt, die alle bösen Taten für einen wahrhaft guten Zweck begangen hat, die zudem nur Menschen geschädigt hat, die selbst gegen Gesetze und Regeln verstoßen haben.
Der Ernüchterung folgt die Vermutung, daß Francis, der sich hier auf der Höhe seiner schriftstellerischen Kraft befindet, die Möglichkeit hatte, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die seine zukünftige schriftstellerische Existenz bestimmt hätte: den Schritt zu künstlerischer Tiefe und Leidenschaft, die seelische Kraft fordert und immer die Gefahr des Scheiterns beinhaltet, eine Entscheidung, die aus einem guten Autoren einen großen Schriftsteller hätte werden lassen. Dick Francis beherrschte inzwischen sein Handwerk so perfekt, daß er in der Lage gewesen wäre, über das erprobte und kalkulierbare Muster hinauszugehen und allen Figuren seiner Bücher die Tiefe zu geben, die sie auf dem Spielfeld des Genres zu mehr als reinen Handlungspersonen hätte werden lassen können.
Aber: Dick Francis hat sich für die sichere Seite entschieden ...
In Reflex treffen der einfache und der vielschichtige Francis aufeinander, was ein merklich unausgewogenes Buch ergibt: eine fast kitschig anmutende glückliche Entwicklung für einen Jockey, die üblichen Actionszenen und andererseits lange, fast ruhige Szenen, in denen Francis sich Zeit für Entwicklungen nimmt und Stimmungen aufbaut.
Nun mag man vermuten, daß Francis nach Reflex flacher und seichter geschrieben hat, aber das ist nicht der Fall. Tatsächlich gelingt es ihm, in den Grenzen seiner Gattung meisterliches Können zu entfalten und virtuos mit den Mitteln der Spannung zu spielen - er wird einer der besten Spannungsautoren der Welt mit einer ständig wachsenden Leserschaft.
Doch wenn man eines seiner Bücher zuklappt, ist die Geschichte beendet und es bleibt kaum etwas zurück. Hier zeigt sich, was einen guten Autor von einem großen Schriftsteller unterscheidet: große Bücher treiben aus dem Haus, wirken nach, sie erschüttern.
Dick Francis hätte es schaffen können, ein großer Schriftsteller zu werden. Aber er wollte wahrscheinlich lieber viele gute Bücher schreiben, statt vielleicht nur wenige große. Vielleicht hatte er auch über das Handwerkliche hinaus nicht das Zeug dazu, die Grenzen des Genres zu überschreiten.
Und vielleicht war es auch die richtige Entscheidung: seine Bücher sind immer noch auf dem Markt gefragt und anerkannt, größere und wichtigere Schriftsteller wie Ross Thomas, Charles Willeford oder Brian Freemantle sind vom Büchermarkt so gut wie verschwunden und bei den Lesern vergessen...
Dick Francis im Autorenregister der Alligatorpapiere
Die persönlichen Betrachtungen werden bei Gelegenheit fortgesetzt.
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