Stefan
Lichtblau

Die Alligatorpapiere.

Die destruktive
Variante.
Kriminalroman

Alligatorpapiere





Die Alligatorpapiere.


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Die Alligatorpapiere.




DIE DESTRUKTIVE VARIANTE.

Ein Krimi von Stefan Lichtblau.


Prolog

Von der Tribüne sah es aus wie ein normaler Preßschlag und niemand konnte ahnen, daß er Schenks Leben völlig verändern würde.
Die Schmerzen kamen erst, nachdem er ein paar Meter gelaufen war, und in den folgenden 13 Monaten sollte er sich nicht mehr erinnern können, wie laufen ohne Schmerzen funktioniert.
Er galt bis dahin als einer der talentiertesten U-21-Nationalspieler mit einer Zukunft in den großen Mannschaften der Bundesliga und selbst nach der Röntgenuntersuchung am Morgen nach dem Spiel ahnte er nicht, daß dieser kleine Haarriß im Mittelfußknochen seines schwächeren rechten Beines sein Leben in eines vor der Verletzung und eines nach der Verletzung teilen würde.
Er ließ sich den Schongips anlegen und glaubte dem Mannschaftsarzt, der von acht Wochen Pause und dem Wiedereinstieg in der Rückrunde sprach. Das sollte nicht die letzte Aussage sein, der er nicht mehr trauen konnte...



1

Das Industriegebiet Rheinklammer war in seiner Blütezeit das Versorgungszentrum der Region, doch seit dem Niedergang des Schiff- und Bahnverkehrs in den 60er und 70er Jahren klebte das Gelände wie eine übergroße Rostbeule an der Rheinschleife und verfiel von Tag zu Tag. Das Klubgelände lag wie ein plattgedrücktes Stück Tortenbrie in dieser industriellen Zone im Osten von Neuss.
Im Südwesten schnitt die Rheinschleife eine Delle ins Gelände und im Nordwesten lagen die Kais des Industriehafens nur einen Steinwurf vom Klubgebäude entfernt. Im Norden hatte sich die Autobahnausfahrt Hafen ausgedehnt und im Osten grenzte das nur noch zu einem Bruchteil genutzte Rangierbahnhofgelände an den Trainingsplatz des BSSV. Neben diesem lag das Amateurstadion des Vereins, das über eine Laufbahn, einen vorzüglichen Rasen und 7.000 marode Steh- und Sitzplatzränge verfügte.
Das Flutlicht tauchte die beiden Plätze in ein eben noch akzeptables Licht und beleuchtete zwei Männer, die die Tornetze aus den Haken lösten. Vom Parkplatz hörte man Türenschlagen und startende Motoren und als die Spieler den Parkplatz verlassen hatten, waren nur noch Gesprächsfetzen der Platzwarte zu hören und gelegentlich wehte der Wind das Tuckern der Schiffe vom Rhein herüber.
Das Büro des Präsidenten im 1. Stock des Klubgebäudes war noch beleuchtet. Der Präsident zündete sich einen Zigarillo an und musterte Melzer, den Manager des BSSV, der ihm einen Computerausdruck zuschob. Das Papier löste sich mit Verzögerung von Melzer's feuchten Händen.
"Sie glauben doch wohl nicht, daß ich mir diesen ganzen Zahlenscheiß auch noch ansehe?" sagte der Präsident. Er sprach leise, aber im Tonfall mühsamer Beherrschung. "Sagen Sie mir einfach klar und deutlich wie hoch der Verlust ist."
"Summa summarum 350.000,- DM."
"Nur 350.000? Das ist ja beinahe eine Erleichterung."
"Pro Spiel", sagte Melzer. Er hielt sich gut. Er transpirierte hauptsächlich an den Händen und an Tagen wie diesen etwas stärker unter den Achseln. Er trug diesmal einen Anzug von der Stange, um nicht besser gekleidet zu sein als sein Chef, aber da sein Gesicht aufgrund der immensen Verlustsumme jegliche Farbe verloren hatte, wirkte der Anzug etwas zu dunkel. Er achtete normalerweise auf so etwas.
"700.000 also." Der Präsident sog an seinem Zigarillo und blies den Rauch beiläufig in Melzers Richtung. Er rauchte keine billige Marke, aber er wußte, daß Melzer darin keinen Unterschied machte - Melzer ekelte sich vor jeder Sorte Zigarillo. Der Präsident beugte sich vor.
"Nun versuchen Sie noch einmal, mir zu erklären, wie es zu dieser Situation kommen konnte, Melzer, in aller gebotenen Kürze."
"Es gab einen Schaltfehler im Rechenprogramm, so daß es im Buchungssystem zu Berechnungsfehlern kam."
"Ein Schaltfehler?" Der Präsident erhob sich von seinem Stuhl. Er war knapp 1,69 m groß und hatte seit seinem 27. Lebensjahr keine Taille mehr. In jenem Jahr hatte er auf einen Schlag 500.000 DM netto mit einem Stahlhandel, einer Spedition und einem Wachdienst beim Ausbau des Frankfurter Flughafens verdient und festgestellt, daß seine prallgefüllte Brieftasche die fehlende Taille glänzend hatte ersetzen können.
"Ein Schaltfehler? Heißt das, wir können die Stadtwerke oder die Computerfirma haftbar machen?"
Melzer schluckte. Ihm fehlte Flüssigkeit. Der Präsident hatte eine schöne Karaffe mit Wasser auf seinem Schreibtisch stehen, doch er hatte ihm kein Glas angeboten.
"Es handelte sich eher um ein softwaretechnisches Problem." Melzer bemerkte selbst, daß die Stimme ohne Speichel kaum Kraft entwickelt.
"Aha, ein softwaretechnisches Problem." Der Präsident ließ eine Rauchwolke durch den Raum trudeln, setzte sich in seinen Sessel und nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. Er zog die Schublade seines Schreibtischs auf und zog einen schmalen ELBA-Ordner hervor. Er schlug ihn auf und blätterte darin.
"Es handelt sich also um das Verarbeitungsproblem einer Software, sehe ich das richtig?" Er blickte kurz zu Melzer und dann wieder in den Ordner.
"Nun..." sagte Melzer.
"Einer Software, die von Ihrer Firma für den Verein programmiert wurde, nicht wahr?" fiel der Präsident ihm ins Wort.
"Nein, die Software wurde von meiner Firma den Gegebenheiten des Vereines angepaßt. Es handelt sich um ein Buchungs- und Registrierungssystem, das von vielen Vereinen benutzt wird."
"So, von welchen Vereinen? Bayern München, 1. FC Köln oder sogar Fortuna Düsseldorf?"
"Fußballvereine gehörten bisher nicht zu unseren Kunden."
"Wahrlich nicht", sagte der Präsident, klappte den Metallbügel des Ordners hoch und nahm ein Blatt heraus. "Hat die Umstellung der Software deshalb 237.536,80 DM gekostet?
"Es waren äußerst umfangreiche, arbeits- und zeitaufwendige Programmierungsarbeiten erforderlich."
"Mit beachtlichem Erfolg, Herr Melzer. Was genau hat Ihr Programm also angerichtet?"
Melzer versuchte, seine Lippen zu befeuchten und griff nach seinen Computerausdrucken. "Irrtümlich wurde das Stadion während der Einführung des Systems frühzeitig als ausverkauft angezeigt, so daß nicht alle Plätze verkauft werden konnten."
"Wieviel Plätze?"
"Sechstausend."
"Welche Kategorie, welcher Preis? Zügig, Herr Melzer, ich möchte nicht auch noch Zeit verlieren."
Melzer blätterte. "Sitzplätze in der Geraden zu 58,30 DM das Stück. Das macht..." Er blätterte weiter.
"349.000,- und ein paar Zerquetschte", sagte der Präsident. Kopfrechnen war seine besondere Stärke. "Ein typisches Zeichen der dilletantischen Vereinsführung, das Programm ausgerechnet in der Woche einzuführen, in der die beiden Top-Spiele gegen Bayern und Fortuna stattfanden."
"So war es nicht. Wir konnten gar nicht anders handeln. Das Programm lief schon einige Wochen fehlerfrei und der Ansturm an Kartenwünschen hätte sich ohne EDV gar nicht bewältigen lassen. Wir hätten pro Spiel über 150.000 Karten verkaufen können, so groß war die Nachfrage."
"Stattdessen haben Sie pro Spiel 6.000 Karten zuwenig verkauft."
"Das Programm lief, wie gesagt, fehlerfrei. Leider gab es im oberen Bereich ab 50.000 Adressen den besagten Ausfall. Der Fehler ist in zwischen auch behoben worden."
"Da Sie selbst auf die Fehlerregulierung zu sprechen kommen." Der Präsident nahm ein weiteres Blatt aus dem Ordner. "Laut Vertrag, den mein Vorgänger leider mit Ihnen abgeschlossen hat, steht Ihnen ein Jahresgehalt von 198.000 DM zu. Bei Rücküberweisung der 237.000 DM, die Sie für Ihre lausige Software erhalten haben, und Aussetzung Ihres Jahresgehaltes verbliebe ein Restbetrag von 265.000 DM aus den 700.000 DM Verlust, den Ihre Garagenfirma mit diesem phänomenalen Programm innerhalb einer Woche fabriziert hatte. Wie haben Sie sich die Zahlung dieses Betrages vorgestellt?"
Melzer's Anzug wirkte einen kurzen Moment noch dunkler, dann schoß mit einem Mal wieder Farbe in sein Gesicht. Er war ein smarter, gutaussehender 38er, der einen großen Teil seiner Einnahmen in Festwerte investiert hatte: einen BMW ZX und einen RANGE ROVER, eine großzügige Eigentumswohnung in Oberkassel und während der Saisonvorbereitung in Alicante hatte er ein schönes Objekt mit gepflegtem Garten, Swimmingpool und drei Badezimmern besichtigt.
"Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen", sagte er.
"Ich meine folgendes, Herr Melzer: ich will jeden Pfennig, den wir durch die beschissene Arbeit Ihres Softwareunternehmens verloren haben, wieder in unserer Kasse sehen. Ich will Ihr Büro morgen vor mittag besenrein und befreit von Ihrer Person vorfinden. Und ich will Ihr Gesicht nach Bezahlung Ihrer Schulden einige Jahrzehnte nicht mehr sehen müssen, weder auf dem Klubgelände, noch im Rheinstadion, noch in irgendeinem Stadion der Bundesrepublik."
"Natürlich bin ich bereit, nach einer sorgfältigen Überprüfung der Ursachen dieses Softwarefehler in angemessener Form in die Haftung zu treten. Aber wenn Sie den abgeschlossenen Vertrag über die Lieferung der Software genau durchlesen, werden Sie feststellen, daß ich für den vollen Schaden nicht haften muß und haften darf."
Melzer gewann sichtlich an Haltung. In seine Geschäftsbedingungen hatte er sehr viel Zeit investiert und sich während seiner Geschäftstätigkeit schon häufig an deren Effektivität erfreut. Er war überhaupt der Meinung, daß seine Firmenkonstruktion eine Spur von Genialität besaß.
"Das Buchungssystem wurde von mehr als 14 selbständigen Softwareentwicklern in der Bundesrepublik, Indien und Malaysia programmiert, von denen jeder vertraglich zur Haftung für die durch seinen Programmteil entstandenen Schäden verpflichtet ist. Der Nachweis einer Teilschuld ist allerdings äußerst diffizil." Melzer wirkte nun fast wiederso cool wie in der Schickeria seines Golfclubs. Er wunderte sich, daß er so einen Bammel vor diesem Gespräch gehabt hatte. Daß der Präsident nach seiner Wahl die ganze Vorstandsmannschaft ausgewechselt hatte, war zwar beunruhigend, aber üblich. Er konnte eigentlich ganz ruhig sein, denn er hatte einen wasserdichten Vertrag. "Meine Firma ist lediglich für die Installation verantwortlich, mit einer maximalen Haftungssumme von 50.000,-- DM. Eine Aufrechnung des Softwarepreises oder sogar meines Gehaltes gegen den entstandenen Schaden dürfte vor keinen Gericht standhalten."
Der Präsident lächelte böse.
"Herr Melzer, mit diesem juristischen Vertragszipzap sind Sie bei mir an der falschen Adresse, mit so etwas gebe ich mich nämlich nicht ab. Es ist ein großer Fehler, bei Geschäften mit mir Haftungsausschlüsse ins Spiel zu bringen. Bei mir haftet jeder persönlich für seine Schuld mit allem, was er hat und wenn es nur sein erbärmliches kleines Leben ist." Er zog ein weiteres Papier aus dem Ordner.
"Das hier war Ihr Vertrag auf Lieferung eines Buchungssystems." Er riß das Papier schwungvoll in kleine Teile, als hätte er darin jahrelange Übung. "Und das war Ihr Anstellungsvertrag als Manager des BSSV Neuss. Auch dieses Papier wurde in Sekunden zu Konfetti. "Wenn Sie so verfahren, wie ich es Ihnen vorgeschlagen habe, betrachte ich das hier als eine Vertragsauflösung in beiderseitigem Einvernehmen." Der Präsident drückte die Glut seines Zigarillos aus und legte den ELBA-Ordner wieder in die Schublade.
"Das wars, Herr Melzer. Morgen vormittag haben Sie Ihr Büro geräumt, und spätestens um 15 Uhr erwarte ich die Rückzahlung des Softwarehonorars in Form eines Schecks über 237.000 DM. Und in genau einer Woche als 1. Rate Ihrer Schuld einen weiteren Scheck über 100.000 DM. Soviel kostet mal gerade eines Ihrer Autos. In der Woche darauf zahlen Sie erst die Restsumme von 165.000 DM. Ich lasse Ihnen also viel Zeit, Herr Melzer."
Melzer rührte sich nicht. Schließlich klopfte er seinen Anzug ab, als wäre er von Zigarilloasche befallen.
"So nicht, Herr Feußnik." Er lachte ungläubig auf faßte sich an die Stirn. "Haften mit dem erbärmlichen kleinen Leben", ahmte er den Präsidenten nach und schüttelte den Kopf.
"Dies ist ein Fußballverein und keine Ersatz-SA. Es bestehen rechtsgültige Verträge und eine Vereinssatzung, an die Sie und ich gebunden sind, und genau daran werde zumindest ich mich halten."
Der Präsident zündete sich einen neuen Zigarillo an, blies den Rauch in den Raum und pickte mit der freien Hand einen Tabakkrümel von der Zungenspitze.
"Ich habe Sie gewarnt , Herr Melzer." Er erhob sich und ging zu einem Bücherregal im rückwärtigen Teil des Raumes. "Sie finden allein hinaus."
Melzer schüttelte ungläubig den Kopf. Dann sprang er auf und schlug die Hacken zusammen. Zackig marschierte er zur Tür, zog sie auf, drehte sich noch einmal um und riß den Arm hoch.
"Heil Hitler, mein Führer!" Lachend schlug er die Tür hinter sich zu.
Der Präsident nahm sein Handy und wählte eine Nummer. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und streifte die Asche des Zigarillos im Aschenbecher ab.
Melzer stieß die Eingangstür auf und wandte sich in Richtung Parkplatz. Das Flutlicht auf dem Trainingsplatz wurde ausgeschaltet, die Lampen erloschen, glühten jedoch noch ein wenig nach. Nach ein paar Schritten ging auch das Flutlicht des Amateurstadions aus.
Die erbärmliche Beleuchtung der Straße hätte es kaum geschafft, den Parkplatz halbwegs ins Licht zu bringen, doch sie erhielt Unterstützung vom Mond, der klar und voll am Himmel stand. Nicht, daß so etwas nötig gewesen wäre, denn es stand kein weiteres Fahrzeug auf dem Platz. Das einzige Auto, das dort parkte, war Melzers BMW ZX und der war leicht zu finden, denn aus ihm schlugen die Flammen meterhoch.

2


Die Gesprächsrunde tagte in einem Konferenzraum der Novotel-Gruppe in Straßburg, den sie unter dem Namen Groupe rhin urbane angemietet hatte. Der Vortragende Achim Muller, ein 35jähriger Elsässer war ein fähiger Analytiker, und für sein Alter sehr effizient in der Führung seiner Gruppe. Außerdem war er sehr begabt darin, Informationen aufzubereiten und knapp, anschaulich und prägnant wiederzugeben, was er in den letzten zehn Minuten mit lediglich zwei Filzstiften und einem Memoboard eindrücklich unter Beweis gestellt hatte.
Jetzt befestigte er zur Unterstützung eine Fotografie mit einem Magneten am Memoboard.
"Nach all diesen Überlegungen erfüllt nur dieses Gebiet alle Voraussetzungen, was Einzugsgebiet, Verkehrslenkung und Imagetransfer betrifft."Er wies mit einem Filzstift auf die Autobahnausfahrt, den Schienenstrang, die Flußbiegung und die Hafenanlage, die auf der Luftaufnahme gut zu erkennen waren.
"Es handelt sich um ein verwahrlostes Industriegebiet in Neuss, direkt gegenüber der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf gelegen. Unser Projekt läge also im Positivimage des Rheinlandes, einer weltoffenen, lebenslustigen und geschäftigen Region, einem Tor zu der dichtbesiedeltsten Landschaft Europas mit einer Bevölkerungszahl von über 5 Millionen Menschen."
"Ein Gebiet, das bis in die 70er Jahre die Dreckschleuder Deutschlands war", warf LeFevre ein. Er war kleiner, als seine voluminöse Stimme vermuten ließ und bekannt dafür, keinem Konflikt aus dem Wege zu gehen. "Auf jedem Quadratmeter Land lagern drei Kubikmeter Schwermetalle." Seine Augen funkelten böse. Er mochte die Deutschen nicht und Elsässern traute er nicht, weil sie zu viele Geschäfte mit Deutschen machten.
"Ihr Einwand ist durchaus berechtigt, soweit er das Ruhrgebiet betrifft", sagte Muller und zeigte mit seinem Stift die Umrisse des Ruhrgebiets. "Doch 'unser' Gewerbegebiet weist einen unschätzbaren Vorteil aus: es war von Beginn an als Handelsplatz konzipiert, an dem so gut wie nichts produziert wurde, so daß wir mit zu vernachlässigenden Altlasten zu rechnen haben. Zudem gehört über die Hälfte des Geländes der Stadt Neuss, die nichts dringender braucht, als Geld, Arbeitsplätze und Impulse. Mit anderen Worten - uns."
Die Runde schien zufrieden, ein Raunen ging durch den Saal, nur LeFevre beugte sich nervös zuckend nach vorn.
"Natürlich", kam Muller ihm zuvor." wäre dieses Terrain längst erschlossen, gäbe es da nicht zwei, nach meiner Meinung aber durch geschicktes Vorgehen zu lösende Schwierigkeiten."
Sein Filzstift kreiste um einen tortenstückähnlichen Keil inmitten des Gewerbegebietes.

3


Die Verletzung lag nun ein schmerzhaftes Jahr zurück. Die Schmerzen hatte ihn immer begleitet, er hatte mehrfach das Training abbrechen müssen und sein letzter Versuch, in der Liga zu spielen, lag nunmehr vier Monate hinter ihm. Nach zehn Minuten hatte er humpelnd das Feld verlassen müssen. Und heute morgen kam der unwirsche Anruf des Managers.
Das Geißbockheim liegt im Grüngürtel im Kölner Westen, nicht weit vom Müngersdorfer Stadion entfernt. In den sechziger Jahren war der 1. FC Köln der erste Fußballverein, der von einem professionellen Management geführt wurde, was sich in einer erfolgreichen Mannschaft und einer gesunden Bilanz niederschlug. Der damalige Präsident ließ das Geißbockheim als Visitenkarte eines modernen Vereins errichten und obwohl die großen Zeiten lange vorbei sind, und die Fassade des Klubgebäudes stark gelitten hatte, erinnert seine klare, schnörkellose Architektur auch heute noch an jene erfolgreichen und richtungsweisenden Tage.
Kastels Büro lag mit Blick auf das Trainingsgelände im Zwischengeschoß. Kastel hatte die Telefonzentrale und die EDV-Abteilung neben sein Büro legen und Wände und Türen schalldicht isolieren lassen, so daß er ungestört arbeiten konnte, dem Personal aber immer den Eindruck vermittelte, es unter Kontrolle zu haben. Mit ein paar Schritten hatte er den Überblick über ein- und ausgehende Telefonate und Faxe und Zugriff auf das EDV-System. Im früheren Konferenzraum hatte er eine Monitorwand mit Satellitenverbindungen zu den wichtigsten Sportsendungen der Welt und Aufzeichnungs- und Wiedergabemöglichkeiten des neuesten technischen Standards installieren lassen und sein Spielerarchiv, aus dem er schon in seiner aktiven Zeit den Stoff für die Beleidigungen seiner Gegenspieler bezogen hatte, mit unzähligen Informationen ausgebaut. Ständig erhielt er Anrufe von Scouts und Spielervermittlern, die ihm interessante Fußballer oder wertvolle Informationen anboten.
Eines Tages stellte er beim Joggen um das Trainingsgelände fest, daß die Fenster seines Büros wie Spiegel im Sonnenlicht lagen und veranlaßte am gleichen Tag den Einbau von Spezialfenstern, durch die man von außen jederzeit die Bewegungen in seinem Büro feststellen konnte. Er wollte, daß Spieler und Trainer ihn vom Trainingsplatz am Fenster stehen sehen konnten und nie das Gefühl verloren, von ihm beobachtet zu werden.
Um 10 Uhr traf Schenk auf dem Klubgelände ein. Er stieg aus dem Taxi und schon stand Klötzer, der Sportreporter des EXPRESS vor ihm.
"Holst Du Dir die Papiere ab, Kajott?" Klötzer hielt sich alle vom Verein warm, aber er hatte ein untrügliches Gespür für Auslaufmodelle, für die er in seiner Kolumne das Halali eröffnete.
"Keine Ahnung", sagte Schenk und stieß die Tür auf. "Ich muß hoch."
Kastel saß an seinen Schreibtisch und unterzeichnete Schriftstücke in einer Dokumentenmappe. Er blickte auf und musterte Schenk lange. Dann zeigte er mit der Hand auf den Konferenztisch.
"Nimm schon mal Platz." Dann blätterte er um, überflog das nächste Schriftstück und setzte seine Unterschrift darunter. Zehn Minuten und vier Schriftstücke später betrat ein athletischer, braungebrannter Mann mit zurückgekämmten blonden Haaren den Raum.
"Josko", begrüßte Kastel ihn und wies auf den Konferenztisch.
"Ich bin gleich soweit." Auch Josko bemühte sich nicht um einen Händedruck. Es war allgemein bekannt, daß Kastel Händeschütteln nicht besonders mochte. Es war ihm gelungen, diese Gepflogenheit auf die Vorstandsebene zu beschränken.
Nach weiteren fünf Minuten erhob er sich und begab sich zum Konferenztisch.
"Tja, Kajott", sagte er und legte eine Akte vor sich, bevor er sich setzte.
"Wir haben Dich ja schon einige Zeit als Altlast betrachtet, mit der wir leider leben müssen." Er schlug den Aktendeckel auf und klatschte die BILD-Zeitung auf den Tisch.
"Aber jetzt entpuppst Du dich auch noch als Giftmüll." Schenk zuckte zusammen.
"Das wirft kein gutes Licht auf den Verein", sagte Josko.
"Halt die Klappe", dachte Schenk.
"Moment." Kastel hoch die Hand. "ich bin noch nicht fertig."
Josko schwieg. Er hatte schon immer gute Reflexe. Er war damals nach Soskic' schwerer Verletzung von der Ersatzbank für die Rückrunde in die Mannschaft gerutscht. Wegen seines schlechten Stellungsspiels hatte die glänzende Abwehrreihe Schwerstarbeit zu verrichten, doch dank seiner grandiosen Reflexe auf der Torlinie war der Verein sogar ins Europacup-Halbfinale gekommen. Leider war er so intelligent wie ein Stück Brot und außerhalb des Fußballplatzes nicht lebensfähig. Kastel hatte ihn als Torwarttrainerassistenten in den Verein geholt, als Joskos Sportartikelgeschäft pleite ging.
"Ich habe Dich nicht für eine Abmahnung antanzen lassen", fuhr Kastel fort. "sondern, um bei der Metapher zu bleiben, wegen der Entsorgung."
"Sie wollen mich also rausschmeißen?"
Kastel hob resigniert beide Hände. "Liebend gern würde ich das tun, aber leider bindet mir das Arbeitsrecht die Hände. Fakt ist: Du spielst nicht mehr."
Er nahm die BILD-Zeitung und legte sie in die Aktenkladde. "Ich weiß, Verletzungen sind eine schlimme Sache", sagte er beinahe mitfühlend.
"Aber irgendwann muß man sich durchbeißen. Ich habe mal gedacht, Du hättest das Zeug, ganz groß rauszukommen, aber ich habe mich geirrt. Du hast keinen Mumm. Und Memmen können wir nicht gebrauchen." Josko nickte.
"Ich habe Josko vom Trainerstab kommen lassen, damit er den Standpunkt des Cheftrainers bestätigt: er plant nicht mehr mit Dir und legt keinen Wert auf Deine Trainingsteilnahme. Mit anderen Worten - Du bist raus."
Schenk erinnerte sich, wie voll der Saal gewesen war, als er damals den Vertrag unterschrieben hatte. Der Trainerstab, der Präsident, Kastels Vorgänger, der Vereinsfotograf u nd der Mannschaftskapitän waren aufgeboten worden, um das 'Juwel' zu empfangen, das dem FC den Vorzug vor all den anderen Vereinen gegeben hatte, die sich um ihn gerissen hatten. Und nun genügte Joskos Kopfnicken, um seinem Abgang zuzustimmen.
"Zu lange verletzt und man fliegt raus? Prima Verein!"
"Zu lange verletzt und besoffen in Nachtclubs, wäre die exaktere Formulierung. Ich habe nicht vor, zu diskutieren. Entweder Du kündigst selbst oder Du bringst einen anderen Verein oder Du reichst den Antrag auf Sportinvalidität ein. Hier jedenfalls läuft mit Dir nichts mehr."
"Ich habe einen gültigen Vertrag", sagte Schenk. "und der läuft noch eineinhalb Jahre. Und Sie wissen genauso gut wie ich, daß ich das Recht habe, meine Arbeit auszuüben. Zum Beispiel, am Training teilzunehmen."
Kastel nickte. "Es gibt Präzedenzfälle, ich weiß. Der Trainer hat befürchtet, daß Du es uns schwermachen willst. Deshalb hat er für Dich ein Spezialprogramm ausgearbeitet. Du wirst mit Josko laufen; und du weißt, Josko ist ein sehr ausdauernder Läufer. Es wird eine sehr harte und sehr einsame Zeit werden, Kajott. Du wirst nicht mehr mit der Mannschaft trainieren. Und Du wirst nie mehr für uns spielen."

4

Anderthalb Wochen nach der Sitzung in Straßburg traf sich ein Teil der Groupe rhin urbane in Paris, in einem Sitzungszimmer des Restaurants Le Train Bleu im Gare de Lyon. Genauer gesagt traf sich ein sehr kleiner Teil der Gruppe, nämlich der damals Vortragende Achim Muller, der Deutschenhasser LeFevre, ein Mann namens Pachinco, der in Straßburg sehr schweigsam, sehr unauffällig, aber sehr aufmerksam am hinteren Teil des Konferenztisches gesessen hatte, und der fette Sandy Glück, die wandelnde Rechenmaschine des Unternehmens, der im Schalensitz des Sitzungszimmers steckte und seine Batterie eisgekühlter, kleiner Coca-Cola-Flaschen bewachte, die er in zwei Zügen auszutrinken pflegte, wenn ihm zu heiß wurde. Ihm war ständig zu warm und er schwitzte viel, aber da er mindestens viermal täglich duschte und ebenso oft die Kleidung wechselte, roch er kaum.
Am Kopfende des Tisches saß LeConti, der Chef der Organisation.
"Nun, meine Herren, das Objekt ist gefunden", sagte er "und es entspricht in Größe und Lage recht genau den Planspielen, die unsere Entwicklungsgruppe um Muller vor einem Jahr begonnen haben. Sandy wird etwas zum finanziellen Rahmen des Projektes sagen, bevor wir in die strategischen Details gehen."
Sandy Glück wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. "Das gesamte Investitionsvolumen der ersten Phase wird etwa 1,2 bis 1,5 Milliarden D-Mark betragen, ein Betrag, in dem so ziemlich alle Unwägbarkeiten enthalten sein sollten, die wir bei unseren erfolgreichen Projekten in Sheffield und Adelaide kennengelernt haben. Als Anschubfinanzierung für das Vorstadium Destruktion und PR stehen 120 Millionen DM zur Verfügung, davon 80 Millionen für Pachinco und 40 Millionen für LeFevre."
LeFevre schien das eben Gehörte nicht zu gefallen. "Ich weiß, daß ich mich wiederhole, aber die Differenz zwischen Pachincos und meinem Etat spricht nicht gerade für die Effizienz von PR. Außerdem..."
"Du wiederholst Dich tatsächlich, Eric", warf LeConti ein. "Aber zu Deiner Beruhigung: Dein Etat betrifft nur die Aktionen im Vorfeld, die nach unserem Planspiel als Grundlage genügen müßten. Sandy hat aber noch ein Budget für Besonderes in der Hinterhand, falls das erforderlich sein sollte."
"35 Millionen, um genau zu sein", bestätigte Sandy Glück und griff zu einer Colaflasche. LeFevre lehnte sich zufrieden zurück und entspannte sich. Er hatte schon bei seiner Zeit in der französischen Armee in Vietnam und Afrika Schwierigkeiten mit dem theoretischen Teil der Politik, der Diplomatie gehabt, nun vertrat er den militärisch-technischen Komplex in der LeConti Groupe. Er war klein, knapp 1,72 m und für seine 61 Jahre blendend in Form und er zog es vor, ohne Umwege auf ein Ziel loszugehen. Die Sprengung der 'Rainbow Warrior' hätte aus seiner Planung kommen können, aber wäre er für die Aktion verantwortlich gewesen, hätte er das gesamte Greenpeace-Team in die Luft gejagt und es als Unfall konstruiert. Pannen und Halbherzigkeiten wie bei dieser Geheimoperation waren die Gründe, weshalb er die Armee verlassen hatte.
Muller baute sein Memoboard auf und befestigte eine größere Luftaufnahme der 'Rheinklammer' daran.
"Pachinco hat ein Dossier der primären PR-Aktionen zusammengestellt, die Stichpunkte sind auf dem vor Ihnen liegenden Blatt 1.1 fixiert. Lesen es bitte jetzt durch und geben Sie mir die Blätter dann zurück. Noch einmal zur Beachtung: es darf nichts über die Aktionen nach draußen gelangen; es sollte sowenig wie möglich schriftlich fixiert werden..."
"Das sollte allen klar sein, Muller", sagte LeConti. "Wir haben es hier mit Profis zu tun."
Muller nickte, aber er schien nicht nur in Planspielen alles für möglich zu halten. "Zur PR. Pachinco führt sein Ressort eigenständig, mit absoluter Weisungsbefugnis. Das heißt, daß sowohl Monsieur LeFevre als auch Sandy Glück seine Anweisungen umzusetzen haben! Es wird sehr viel vom exakten Timing seiner geplanten Aktionen abhängen. Meine Planungsgruppe übernimmt wie immer bisher die komplette Logistik, Koordination etc. pp."
"Zum organisatorischen Ablauf werden wir gleich von Ihnen, Muller, sicher weitere exakte Informationen erhalten. Bis hierhin vielen Dank." LeConti sprach leise und zwang alle Teilnehmer zu absoluter Aufmerksamkeit.
"Meine Herren, das Rheinklammer-Projekt funktioniert im Groben wie die Sheffield-Operation, kann uns aber durch Sandy Glücks Finanzierungskonstruktion die Tür zu beinahe unbegrenztem weltweiten Handeln öffnen, wenn uns kein Fehler unterläuft. Sandy ist es gelungen, äußerst potente, stille Teilhaber zu gewinnen, die über genügend Spielgeld verfügen, um mit der notwendigen Geduld in eine, in ihren Augen eher riskante Operation, zu investieren. Unsere neuen Partner sind so still, daß sie über keinerlei Mitspracherecht verfügen wollen, und darauf bestehen, daß ihre Zusammenarbeit mit uns niemals an die Öffentlichkeit dringen darf. Sicherheitshalber hat Sandy wie bei der Sheffield-Operation schon dafür gesorgt, daß die beteiligten Firmen nicht mit dem Namen LeConti in Zusammenhang gebracht werden können, dementsprechendes gilt für unsere neuen Partner. Nun zur unangenehmen Seite dieser Entwicklung. Natürlich haben unsere Partner eine Garantie für ihr Inkognito und unsere Unabhängigkeit verlangt."
LeConti registrierte mit einem schnellen, musternden Blick die Anspannung seines Teams. Sandy Glück schwitzte noch mehr und griff zu einer weiteren Flasche Cola. LeFevres Wangenknochen stachen hervor und er biß die Zähne zusammen wie ein aufgeputschter Kampfhund. Muller ordnete seine Stifte nach einem ständig wechselnden Farbschema und Pachinco schien in seiner Unauffälligkeit fast körperlos zu werden und mit dem Raum zu verschmelzen.
"Unsere stillen Partner verlangten nicht nur die Namen aller anwesenden Personen, sondern auch die gesamten Dossiers, die ich über euch angelegt habe. Das wäre, bei der Brisanz der in den Dossiers enthaltenen Daten, so etwas wie eine Zeitbombe in fremder Hand." LeConti hielt inne und die Beteiligten sahen ihn nervös atmend an. "Seit 24 Stunden sind diese Unterlagen in deren Besitz."
Mullers roter Farbstift zerbrach mit einem trockenen Knall, nur über Pachincos Lippen huschte ein Lächeln, als wäre sein Dossier verbrannt.

5

Zwei Tage nach der Konferenz der Groupe rhin urbane im Le Train Bleu klingelten in diversen Büros und Wohnungen die Telefone, Faxe wurden empfangen und Kurierdienste überbrachten Dokumente. Bei Kent Carlsen meldete sich telefonisch ein Besucher an.
Kent Carlsen war Gründer und Präsident des Europäischen Verbandes der Unternehmer EVdU, der seinen Mitgliedern, Einzelunternehmern, Firmen und Unternehmensverbänden Schulungen und Fachseminare mit kompetenten internationalen Experten vermittelte und in großen Galas mit den Spitzen der Gesellschaft Spenden für gemeinnützige Zwecke, Kunst und Kultur sammelte. Der Verband arbeitete mit bestens geschulten Steuerfachleuten zusammen und betrieb ein Versorgungs- und Selbsthilfewerk mit rabattierten Versicherungspaketen und Kapitalanlageprogrammen der Zürcher Allgemeinen, der viertgrößten Schweizer Versicherungsgruppe, die mit 73 % der Aktienanteile dem französischen Bankhaus Estelle & Franchais gehörte, einem Unternehmenszweig der LeConti Groupe.
Ursprünglich diente die EVdU als Adressenpool und Werbepartner für den Außendienst der Zürcher Allgemeinen, einem 'Tarngeschäft', das im hartumkämpften Versicherungsmarkt von allen großen Konzernen betrieben wird. Zunehmend entwickelte sich der Verband aber zu einem Lobbyisten der LeConti Groupe, die ihre Expansionsbestrebungen in Deutschland von der brillanten PR-Arbeit Kent Carlsens vorbereiten und unterstützen ließ.
Die Politiker, die Carlsen zu gut honorierten Podiumsdiskussionen und Vorträgen in gediegenes Ambiente lud, ahnten nichts von LeConti und Carlsen wählte mit Geschick die Hinterbänkler des Parlaments zu seinen Galas und Benefizveranstaltungen, während er für Entscheidungsträger, die in Ausschüssen saßen oder Vorlagen einbrachten, Bankette mit Prominenz aus Wirtschaft, Kultur und Sport arrangierte. Nach Begegnungen mit Pavarotti, Kissinger, Reagan, Thatcher und General Schwarzkopf dachte man global und größer und verlor ein wenig das Verständnis für kleinliche Debatten über Ladenöffnungszeiten, Flächennutzungspläne und Beschäftigungsprogramme.
Carlsens Besucher verließ das Taxi, knöpfte sein Jackett zu und betrat mit einem kleinen Aktenkoffer das Bürogebäude am Barbarossaplatz. Er zählte an der Klingelleiste die Namensschilder der zweiten Reihe von insgesamt 4 Reihen und drückte auf das fünfzehnte Schild von oben, eines von vielen unbeschrifteten.
"Ja bitte?" krächzte es aus dem Lautsprecher.
"Barbarossa."
"Siebte Etage, Raum 2504."
Pachinco hielt nicht viel von diesem Codewortspiel, aber er wußte, daß Carlsen eine Schwäche für solche Inszenierungen hatte.
"Pachi, mein Lieber, es ist schön, dich wiederzusehen!" Obwohl die Begrüßung nach Carlsens Art wie immer etwas operettenhaft ausfiel, war seine Freude echt. Im Gegensatz zu Carlsen war Pachinco in Wesen und Bekleidung unauffällig, schnörkellos in seiner Redeweise und zurückhaltend im Auftreten und ließ Carlsen dadurch bereitwillig viel Raum für seine Selbstdarstellung, und Carlsen bedauerte, daß sie sich nur in diesem verschwiegenen Rahmen treffen durften und nicht auf einer seiner Palaismatinees oder Champagnerdefilees. Carlsen liebte Pachinco wegen dieser Bescheidenheit und dessen Verständnis für seine, wie er wußte, manchmal etwas penetrante theatralische Art, aber ganz besonders liebte er ihn wegen des Inhalts seines Aktenkoffers. Pachinco schenkte ihm bei jedem Besuch schöne Scheckbücher für diskrete Luxemburger Bankkonten, auf die er freien Zugriff hatte und er mußte nichts anderes dafür tun, als das, was er am Liebsten und am Besten machte - die richtigen Leute am richtigen Ort zu richtigen Zeit zusammenbringen und mit gezielten Informationen, Gerüchten und Klatsch für seine kleinen Intrigen benützen.
Pachinco befreite sich aus der Umarmung und begutachtete Carlsens Büro.
"Ein geradezu bescheidenes Ambiente", sagte er bewundernd.
"Nicht wahr?" bestätigte Carlsen stolz. "Eine meiner besten Tarnungen." Er hatte sich für kühle italienische Büromöbel entschieden, komplettiert durch eine Telefonanlage von Bang & Olufsen und Designer PCs der Firma APPLE. Lediglich das riesige zweieinhalb mal viereinhalb Meter große Ölbild hinter dem Konferenztisch und den Bauhaus-Freischwingern, das ein Feld voller riesiger, grellgelber Sonnenblumen darstellte, sprengte etwas den Rahmen.
Pachinco öffnete den Aktenkoffer und schob Carlsen zwei Scheckbücher und ein DIN A 4 Blatt mit drei Kontonummern und zwei Telefonnummern hinüber.
"Es gibt diesmal eine ganz andere Kontozusammenstellung", sagte Pachinco und zeigte auf die beiden unteren Kontonummern. "Diese beiden Konten und diese beiden Telefonnummern gehören zu einem kleinen und sehr verschwiegenen Bankhaus auf Jersey, das auf Deinen Anruf bei Nennung des Codewortes in diesem Umschlag, Überweisungen auf jedes von Dir angegebene Konto unter jedem von Dir genannten Namen vornimmt." Er legte einen versiegelten Briefumschlag auf die beiden Scheckbücher. "Keine dieser Überweisungen darf in irgendeiner Form mit Dir in Zusammenhang gebracht werden! Dein persönliches Schecklimit auf diesem Luxemburger Konto", Pachinco legte den Zeigefinger auf die obere Kontonummer,"wurde aus gegebenem Anlaß erhöht, aber Du solltest deshalb Deine repräsentativen Ausgaben nicht auffallend erhöhen." Er schrieb die Zahl 950.000 DM auf einen Zettel und zeigte ihn Carlsen. Der runzelte ungläubig die Stirn, nahm Pachinco den Zettel aus der Hand und las die Zahl noch einmal. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er Pachinco den Zettel zurückgab.
"Das ist eine sehr schöne Zahl", sagte er. "Aber es ist auch eine sehr hohe Zahl. Gehe ich recht in der Annahme, daß sie auch eine außergewöhnliche Leistung erfordert?"
Pachinco nickte. "Ich werde Dir die Aufgabe nur einmal erklären. Hör mir genau zu. Es wird nichts Schriftliches darüber geben."
Im Laufe des Gesprächs verschwand Carlsens Lächeln und wich einem sehr konzentrierten Gesichtsausdruck und mehrmals zog er erstaunt die Augenbrauen hoch.

6

Nach vier Wochen hatte Schenk das Schlimmste überstanden. Er hatte in der zweiten Woche das Lauftraining abbrechen und seinen Arzt aufsuchen müssen, weil der Fuß wieder schmerzte. Diesmal allerdings sagte der Arzt, daß die Verletzung trotz der Laufbelastungen nicht aufgebrochen wäre. Er vermutete eine Verkrampfung im Bewegungsablauf und zeigte ihm einen Muskel, der anormal angeschwollen war, weil Schenk den Fuß falsch belastet und den Muskel dadurch auftrainiert hatte. Er ließ Schenks Sportschuhe vom Sportschuhlieferanten neu auspolstern und tatsächlich hatte Schenk Ende der dritten Woche die Schmerzen vergessen. Er hatte Joskos Tempo bis zu dieser Zeit nicht angenommen und war trotz Joskos hämischer Kommentare immer in seinem verletzungsbedingten Tempo hinter ihm hergelaufen, ab der vierten Woche schloß er immer mehr zu Josko auf, bis er ihm mit Leichtigkeit folgte. Er besorgte sich Fachliteratur und arbeitete sich ein Trainingsprogramm aus, und als bei Intervalltraining, Sprints und Crossläufen keine Schmerzen mehr auftraten, übte er nach dem Lauftraining zu Haus auf dem alten Rasenplatz, den die Engländer hinter ihren Kasernen angelegt hatten, mit dem Ball.
"Hält der Fuß?"
Schenk drehte sich um und sah Falko Zapf, einen ehemaligen Wuppertaler Bundesliga- und Nationalspieler, der vor der Saison seinen Trainerschein gemacht hatte und nun beim BSSV Neuss als Co-Trainer arbeitete, an der Seitenabsperrung stehen.
"Bis jetzt ohne Probleme", antwortete er.
"Bei voller Trainingsbelastung?"
"Sind Sie über mein sogenanntes Trainingsprogramm informiert?" fragte Schenk.
"Du meinst Dein mannschaftsloses Training?"
"Zum Beispiel."
"Meine Quellen deuteten etwas von Lauftraining an."
"Würde Sie mein Lauftraining interessieren?"
Zapf nickte. "Ich habe Zeit."
"Ich wechsele die Schuhe." Schenk tauschte an seinem Wagen die Fußballschuhe gegen Laufschuhe aus und als er zurück zum Rasenplatz kam, sah er, daß Zapf sich umgezogen hatte und im Trainingsanzug auf ihn wartete. Schenk führte in der folgenden halben Stunde zusammen mit Zapf eine Kurzfassung seines Spezialtrainings durch. Schwer atmend ließen sie sich schließlich ins Gras fallen und Schenk sagte: "Seit sechs Wochen absolviere ich schmerzfrei das Lauftraining und diese Ball- und Schußübungen."
"Du weißt, daß Kastel Dich in der ganzen Republik anbietet?"
Schenk nickte. Aufgrund seiner langwierigen Verletzungspause war er ein schwer verkäuflicher Artikel, zumal er auf sein gutes Grundgehalt beharrte, mit dem der FC ihn damals gelockt hatte, so daß die wenigen, sowieso skeptischen Interessenten abwinkten.
"Es ist noch nicht über die Agenturen gegangen, aber spätestens heute abend wirst Du in den Sportnachrichten hören, daß Hagenkötter entlassen worden ist und daß ich seinen Job übernehmen werde", sagte Zapf. "Ich brauche noch zwei, drei Spieler, mit denen ich die Mannschaft wachrütteln kann, damit wir da unten rauskommen und ich denke, Du könntest einer davon sein."
Der BSSV hatte als Aufsteiger eine phantastische erste Saison gespielt, doch in der zweiten Saison zeigten sich auch bei dieser Mannschaft, wie bei vielen Aufsteigern, Abnutzungserscheinungen.
"Meinen Sie wirklich, jemand aus dem Lazarett könnte Ihre Mannschaft aufrütteln?"
"Das müßtest Du natürlich im Probetraining andeuten können."
Schenk schoß den Ball noch einmal von der Strafraumkante. Der Ball traf krachend das Lattenkreuz und sprang ins Feld zurück.
"Wie sind Sie auf mich gekommen?"
"Ich bin die letzten Jahre nicht blind durch die Gegend gerannt", sagte Zapf. "Außerdem bestätigte Hennes mir gestern, daß ein Lust- und Instinktfußballer wie Du nicht ein ganzes Jahr um den Decksteiner Weiher laufen will."
"Löhr?" fragte Schenk. Zapf nickte. Hennes Löhr hatte Zapf in die U-21 geholt und ihm die Rolle im zentralen Mittelfeld gegeben. Zapf grinste.
"Außerdem habe ich ein Faible für Schnäppchen", sagte er und erklärte Schenk, wie er sich die Modalitäten des Vereinswechsels vorstellte. Schenk hörte aufmerksam zu.

7
Herwig Baltes wuchs in einem muffigen Aachener Beamtenhaushalt auf und entdeckte seine besondere Fähigkeit beinahe zufällig in der Schulzeit. Aber er erkannte sehr schnell, was sie für sein Leben bedeuten konnte.
Er sah passabel aus und er war ein guter Sportler, aber sein größtes Talent bestand darin, unterhaltend zu sein. Er war derjenige, der eine langweilige Party rettete und aus einem faden Nachmittag ein paar denkwürdige Stunden mit Esprit machen konnte. Dieses Talent hatte ihm einen großen Freundeskreis beschert und glücklicherweise gehörte sein bester, aber nicht besonders kluger Freund Claes Oelricke zu einer der reichsten Familien der Stadt. Die Familie Oelricke genoß Herwig Baltes Lebensfreude, die auch ihren Sohn Claes ansteckte, und so ermöglichten sie ihm mit Freude exklusive Vergnügungen wie Segeln, Reiten und Golfen mit Claes.
Baltes wurde ein begeisterter Segler und ein begabter Reiter und in der Oberprima ein begnadeter Manipulator.
Denn scheinbar unabsichtlich verrieten ihm Claes Eltern, wie gern sie ihren Sohn als den nächsten Sprecher der Schule sähen und eine Woche später skizzierte Baltes wie zufällig in einem Gespräch mit ihnen, wie eine Kampagne auszusehen hätte, um den begabteren und geeigneteren und ärmeren Gegenkandidaten aus dem Feld zu schlagen. Zwei Tage nach diesem Gespräch besaß Baltes zum ersten Mal in seinem Leben ein Bündel mit fünfhundert Zehnmarkscheinen und nach weiteren drei Tagen hatte er beschlossen, den größten Teil seines ersten Etats für seine eigene Karriere zu verwenden. Er kaufte keine Stimmen, denn dazu war er zu geizig, sondern gründete in Claes Oelrickes Namen eine quirlige Schülerzeitung, deren Beiträge er sämtlich selber schrieb und da er es auch nicht übers Herz brachte, seinen Etat anzugreifen, wurde er sein eigener, überaus erfolgreicher Anzeigenwerber und machte mit der Zeitung sogar Gewinn. Er organisierte für Claes eine Benefit-Rockparty zeitgleich mit Bob Geldofs 'One-World-Project' und erzielte einen stattlichen Profit. Auch nach Claes Oelrickes Wahlsieg schrieb er dessen Reden und die Artikel seiner Zeitung und verfügte zu Beginn seines Studiums der Betriebswirtschaft und der Kommunikationswissenschaft in Köln über ein Barvermögen von 15.000 Mark und ein Stipendium der Oelricke-Stiftung. Nach Beendigung des Studiums verkaufte er seinen Anteil an der von ihm gegründeten und bundesweit vertriebenen Studentenzeitschrift CAMPUS & CASH für 130.000 DM an die FAZ Verlagsgruppe und stieg als Trainee bei Kent Carlsens EVdU ein, um dessen Verlagsprogramm zu modernisieren.
Er partizipierte natürlich an seinen eigenen Buchveröffentlichungen und war als PR-Fachmann bald ein vielgefragter Schulungsleiter und Moderator zahlloser Motivationsveranstaltungen.
Carlsen lernte Baltes besondere Fähigkeiten der Manipulation jedoch erst kennen, als er ihn zur Unterstützung in sein Team aufnahm, das die Stimmungslage für eine Erweiterung der Ladenöffnungszeiten beeinflussen sollte.
Baltes brannte ein Propagandafeuerwerk ab, er ließ TV-Spots herstellen und brachte sie in sämtlichen Boulevard-Magazinen der Fernsehanstalten unter und seine, unter wechselnden Namen geschriebenen Artikel, schafften es bis in die Feuilletons der ZEIT, ohne daß jemand auffiel, daß alles aus einer bezahlten Lobbyistentruppe stammte. Während Carlsen auf seinen betulichen Galas die ältere Garde der Politiker umgarnte, bearbeitete Baltes auf flotten Lifestyle-Events den dynamischen Politikernachwuchs aller Couleur, die neue Machergeneration, die in der Politik etwas bewegen wollte.
Nach der Verabschiedung des neuen Ladenschlußgesetzes stellte die Lobbytruppe ihre Arbeit ein und vierzehn Tage, nachdem Baltes seine Energie wieder ausschließlich auf die Arbeit der EVdU gerichtet hatte, erhielt er einen Anruf von Pachinco, der ihn zu einem vertraulichen Gespräch nach Straßburg einlud, über daß er Carlsen nicht unbedingt informieren sollte. Carlsen sollte nie erfahren, daß Pachinco sich mit Baltes getroffen hatte und hätte er nur andeutungsweise geahnt, was die beiden in Straßburg besprochen hatten, wäre er in der Folgezeit wesentlich vorsichtiger vorgegangen und mit Sicherheit hätte er mit diesem Wissen Baltes niemals zu seinem Assistenten benannt.

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Die destruktive Variante.
Ein Kriminalroman von Stefan Lichtblau
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