Stefan
Lichtblau

Die Alligatorpapiere.

Die destruktive
Variante.
Kriminalroman

Alligatorpapiere





Die Alligatorpapiere.


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Die Alligatorpapiere.




DIE DESTRUKTIVE VARIANTE.

Ein Krimi von Stefan Lichtblau.
Teil 4


19

Bosebiel hatte für sein Studium an einer privaten Universität bei Saarbrücken zehn Semester benötigt, dafür aber mit Auszeichnung als Jurist und Betriebswirt abgeschlossen. Er war damals 26 Jahre alt und hatte attraktive Angebote von zwei Bankhäusern und einem Versicherungskonzern, aber neben Feußniks beeindruckendem finanziellen Angebot schien ihm der Controllingbereich in dessen verschachtelten Dienstleistungsimperium mit mehr als zehntausend Mitarbeitern abwechslungsreicher zu sein, als das frühe Einreihen in die festgeklopfte Hierarchie der Bankenwelt. Seine Einschätzung war richtig gewesen und in den vier Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er mit seiner Mischung aus Akribie und Improvisationstalent sowohl das verschlungene Netz des Feußnikschen Imperiums durchschauen, als auch mit neuen Knoten versehen können. Das als neues Betriebsfeld ein Fußballverein dazugekommen war, war allerdings eine überraschende Entwicklung, aber sie paßte in Feußniks Lebensplan. Er war ein begeisterter Fußballfan und er räumte gern auf, deshalb hatte er ja die Reinigungsfirmen, und beim BSSV war eine Menge aufzuräumen. Bosebiel hatte selten ein derart heruntergekommenes Unternehmen gesehen.
"Raus damit, Sie wissen, daß Fakten mich nicht erschrecken. Wie stehen wir da?" Der Präsident hatte sich in aller Ruhe einen Zigarillo angezündet und einen Kognak eingeschenkt, bevor er sich zu Bosebiel an den Konferenztisch gesetzt hatte. Bosebiel nippte an seinem Mineralwasser und schlug seine Notizkladde auf.
"Die Pokalspiele halten uns am Leben; ohne diese Einnahmen wären wir mit der ersten Million im roten Bereich. Zusätzlich zu den Eintritts- und Fernsehgeldern haben uns die Siege gegen Bayern und Schalke eine Menge Einladungen zu Gastspielen gebracht. Diese Einladung ist bis jetzt die interessanteste und außerdem recht lukrativ." Er reichte dem Präsidenten einen Brief hinüber.
"Paris St. Germain? Was erwarten die denn von uns?"
"Sie veranstalten ein kleines Jubiläumsturnier, das sie meiner Meinung nach auch gewinnen wollen. Gegen Schalke haben sie letztes Jahr schlecht ausgesehen und von den Bayern sind sie regelrecht vorgeführt werden. Wahrscheinlich denken sie, sie könnten ihrem Publikum mit einem klaren Sieg gegen uns, die Schalke- und Bayernbezwinger, imponieren. Ich habe mit Zapf abgestimmt, daß wir die Einladung annehmen. Die Gage allein zwingt uns dazu, außerdem will Zapf die Gelegenheit nutzen, die neuen Spieler noch besser zu integrieren."
"Wie sind Sie mit dem Neusser Sportamt verblieben?" fragte der Präsident.
"Nachdem Sie dem Oberbürgermeister die Werbewirkung des BSSV für die Stadt noch einmal verdeutlicht haben, hat er das Sportamt veranlaßt, die Bezirkssportanlage bis auf weiteres für uns zu reservieren. Zumindest bis die toxische Belastung unseres Klubgeländes durch den Großbrand geklärt und über die Entsorgung der kontaminierten Flächen entschieden worden ist."
"Darüber werden Jahre vergehen. Nach meinen Informationen ist die Haftungsfrage dermaßen verworren, daß die Gerichte auf Jahre hinaus zu tun haben werden. Unter diesen Umständen ist an eine Beleihung des Klubgeländes nicht zu denken, Bosebiel. Wir werden völlig neue Lösungsmöglichkeiten suchen müssen."
"Ich habe die Akten inzwischen vollständig durchgearbeitet und sämtliche Unterlagen des Grundbuchamtes einsehen können. Es besteht absolut kein Zweifel daran, daß die Stadt Neuss und die Reichsbahn im Jahre 1927 jeweils die Hälfte des Vereinsgeländes dem damaligen 'Bahn- und Schiffahrtssportverein Neuss' zum symbolischen Preis von jeweils einer Reichsmark verkauft haben. Der Vertrag ist, wie ich mir von einem Notar habe bestätigen lassen, hieb- und stichfest und nicht mehr zu beanstanden."
"Wir verfügen also über ein wunderschönes Kuchenstück, das leider vergiftet ist. Es wird schwer werden, jemanden zu finden, der so ein Stück Torte kaufen will. Zumal für den Preis, den wir uns vorgestellt haben."
Bosebiel nickte. Aber er sagte nicht, daß er in dieser Angelegenheit schon lange über gute Kontakte verfügte.



20

Der Fotograf beglückwünschte sich zu der Idee, nach der anstrengenden Woche, die er auf der Welthandelskonferenz in Paris verbracht hatte, in der Brasserie Bofinger, einer der ältesten Pariser Brauereigaststätten im Marais zu schlemmen und zu entspannen, anstatt die erste Maschine nach Hause zu nehmen.
Das elsässische Bier, das er zu seiner rustikalen Mahlzeit getrunken hatte, zwang ihn dazu, die Toilette aufzusuchen, bevor er zum Hotel fahren konnte.
Den Mann, der die Toilette betrat, als er sich die Hände wusch, erkannte er im mächtigen Spiegel des Waschraum auf den ersten Blick nicht, aber er vertraute seinem Gespür. Er hatte ihn schon einmal gesehen, vielleicht sogar fotografiert. Der Mann war kein Politiker oder Staatssekretär und er brachte ihn auch nicht mit Frankreich in Zusammenhang. Sorgfältig trocknete er die Hände ab und versuchte die Fotografie jenes Mannes aus seinem Gedächtnis abzurufen, aber nach der anstrengenden Woche und dem Elsässer Bier war er nicht auf der Höhe und nachdenklich verließ er die Toilette. Der Mann schien nicht prominent zu sein, hatte nichts mit Film und Kulturleben zu tun, eher mit Wirtschaft oder Finanzen, wahrscheinlich auf einem wenig spektakulären Randgebiet, sonst hätte sein Gedächtnis trotz Überanstrengung einen Namen präsentiert.
Der Fotograf schulterte seine Kameratasche und öffnete die Tür zum Speisesaal. Er schlenderte immer noch gedankenversunken zum Ausgang und sein Blick streifte die gerahmten Fotografien hinter der Schanktheke, Mitterand und Helmut Kohl, Jean Gabin, Catherine Deneuve, Michael Douglas, Pele, Michel Platini.
Plötzlich wußte er es. Der Präsident! Der Mann, der unauffällig ein Imperium aufgebaut hatte, das Milliarden in Wachdiensten, Gebäudereinigung, Catering und Immobilienverwaltung umsetzte, ein Unternehmer, der jeder Publicity aus dem Weg gegangen war und plötzlich als Präsident eines bankrotten Fußballvereins kandidierte und zur öffentlichen Person wurde und in der regionalen Presse nur 'Der Präsident' genannt wurde.
Der Fotograf nahm seine kleine Kamera aus der Tasche und kehrte um. Lokalpresse brachte zwar nicht viel, aber Zufälle dieser Art sollte man nutzen. Er sah die Schlagzeile schon vor sich.
"Der Präsident in Paris. Sucht er neue Spieler?"
Der Präsident verließ die Toilette und der Fotograf entschied sich für die Entlarvungsmasche. Verwackelte, unscharfe Fotos, auf denen das Opfer versucht, unerkannt zu bleiben. Das machte sich gut in einer Serie von drei, vier Bildern, am besten mit hochgerissenen Armen oder Händen, die versuchen, die Linse zu verdecken.
Er ließ den Präsidenten vorbei, drehte sich und rief, als der Präsident die Tür zu einem abgelegenen Raum öffnen wollte: "Herr Feußnik?"
Er hatte sich gut unter Kontrolle. Er blickte zwar überrascht in die Kamera, aber im Gegensatz zu den Menschen in dem Besprechungszimmer, die sich erschrocken umsahen und panisch auf die Tür zusprangen, vermied er jede hastige Bewegung. "Sie müssen mich verwechseln, ich spreche kein Deutsch," sagte er auf Französisch. Der Fotograf nutzte die Motorkamera und versuchte, die Hektik im Besprechungszimmer aufs Bild zu bannen, während er sich an Feußnik vorbei zum Ausgang bewegte.
Die Situation irritierte ihn. Eigentlich hätte der Präsident hektisch verschwinden müssen, anstatt sich ruhig und energisch auf ihn zuzubewegen. Auch die Reaktion der anderen Menschen im Raum veränderte sich von panischer Unruhe zu entschlossenem Agieren.
Der Fotograf versuchte, schnell, ohne Aufsehen zu erregen, den Gastraum zu durchqueren, beunruhigt durch die militärisch klingenden Kommandos, die aus dem Besprechungszimmer schallten. Draußen rannte er, wie in Filmen über Kriegsberichterstatter, über die Chaussee, bis er in der Menschenmenge untertauchte, die sich aus der neuen Oper in die Metrostation an der Bastille ergoß. Er hielt nach Verfolgern Ausschau, aber niemand schien sich für ihn zu interessieren und so erholte er sich, schwer atmend vom ungewohnten Sprint über die Straßen von Paris.
Vorsichtshalber stieg er eine Station früher aus, um viele Menschen um sich zu haben und folgte dem Strom über die Champs Elysée. Kurz vor dem Lido setzte er sich ab und ging in strammen Tempo durch die nun leerer werdenden Straßen zu seinem kleinen Hotel in der Rue Saint Philippe du Roule. An der Reception legte er die Quittung für die bezahlte Hotelrechnung vor und erhielt seine Reisetasche aus dem Büro und dann wartete er, ungeduldig eine Zigarette rauchend, auf das Taxi, das er bestellt hatte.
In dem Moment, als das Taxi abfuhr, betrat ein Mann mit einer Bofinger-Schürze das kleine Hotel und fragte den Mann an der Reception nach dem Fotografen, der vor einiger Zeit ins Hotel gekommen sein müßte. Er habe nämlich seine Fototasche im Bofinger stehen lassen. Ob er sie ihm aufs Zimmer bringen könnte.
"Nein", sagte der Portier, der Herr habe eben ein Taxi zum Flughafen genommen und auch auf ihn habe er einen unruhigen, nervösen Eindruck gemacht. Der Mann mit der Bofinger-Schürze fragte, ob er ihm die Adresse des Fotografen geben könne, damit ihm die Tasche nachgeschickt werden könne, wenn man ihn am Flughafen nicht erwischen würde und der Portier tippte etwas in den Computer, riß ein Papier aus dem Nadeldrucker und gab es dem Mann.
Der Mann setzte sich auf den Beifahrersitz eines Peugeot und griff nach dem Autotelefon, als der Wagen losfuhr. In der langgezogenen Kurve, die zum Flughafenzubringer führte, zog er die Schürze aus und warf sie aus dem Fenster.
Der Fotograf forderte den Taxifahrer zu abrupten Richtungswechseln auf, ließ ihn mehrfach an Bushaltestellen halten und beobachtete den folgenden Verkehr, aber es schien, als wäre er noch einmal davongekommen.
Seit Lady Di's Tod wurden Fotografen oft erst einmal verprügelt, bevor man nach dem Film fragte, aber abgesehen von der nicht eindeutigen Prominenz des Präsidenten konnte er sich die Aufregung nach seinen Fotos nicht erklären. Er hatte instinktiv den Finger drauf gelassen, als sich die Tür geöffnet und die Panik ausgebreitet hatte, aber die dann entstehende kühle und militärisch anmutende Reaktion hatte ihn erschreckt. Er würde sich die Fotos zu Hause in Düsseldorf sehr genau anschauen müssen. Er nahm den Film aus der Kamera und packte ihn in einen gepolsterten Umschlag, den er an seine Düsseldorfer Wohnung adressierte. Der Taxifahrer mußte an einer weiteren Bushaltestelle warten und dann fünfmal durch einen Kreisverkehr fahren, bevor er sich in die Polster zurücksinken ließ und eine Zigarette anzündete.
Den unauffälligen Peugeot, der dem Taxi in großem Abstand folgte, hätte er auch nicht wahrgenommen, wenn er mehr Erfahrung darin gehabt hätte, Beschatter zu erkennen. Der Beifahrer führte ein Telefonat, um mitzuteilen, daß sie den Fotografen nicht verloren hätten und daß sie den Eindruck hätten, daß er jetzt sicher wäre, nicht mehr verfolgt zu werden.
"Gut, bleibt nur soweit an ihm dran, daß ihr zugreifen könnt, wenn er doch nicht zum Flughafen fahren sollte, oder irgendetwas versucht, um den Film loszuwerden. Am Flughafen hat er keine Chance," sagte LeFevre.
Der Fotograf stieg aus dem Taxi und betrat das Flughafengebäude. Durch eine Drehtür verließ er es wieder und mischte sich unter eine Seniorengruppe, die einen Reisebus verlassen hatte und ihrem Abfertigungsschalter zueilte. Dort verließ er die Gruppe und fuhr mit einem heiteren amerikanischen Sportteam in einem geräumigen Fahrstuhl auf die Boutiquenebene. Als er mit der Rolltreppe nach unten fuhr, lösten sich zwei Schwarze von einem Postkartenständer und betraten ebenfalls die Rolltreppe. Der Fotograf wandte sich nach links und die Schwarzen folgten ihm lässig. Nervös eilte der Fotograf durch den modernen Komplex, während er mit einer Hand den Jiffy-Umschlag öffnete, den Film herausschüttelte und sein Einwegfeuerzeug hinein nestelte. Den Umschlag warf er in den nächsten Briefkasten. Die beiden Schwarzen kümmerten sich jedoch nicht darum und näherten sich dem Fotografen, der hastig den Gedanken aufgab, den Briefkasten zu beobachten. So erfuhr er nicht, daß fünf Minuten, nachdem er den Briefumschlag eingeworfen hatte, und einer seiner Verfolger die Zentrale angerufen hatte, ein Mann mit einem Spezialschlüssel den Briefkasten öffnete und sieben Minuten nach seinem Posteinwurf sein Einwegfeuerzeug in LeFevres Hand lag.
Der Fotograf beruhigte sich auch nicht, als die beiden Schwarzen überschwenglich von fünf Afrikanern begrüßt wurden und mit ihnen lautstark in einem Flughafenbistro verschwand. Er sah auf die Uhr und beschloß, erst im letzten Moment einzuchecken, als sein Blick auf einen jungen Mann fiel, der am äußeren Ende der Theke eines Imbisses saß und mit anderen Männern scherzte, die das gleiche dunkelblaue Sakko wie er trugen. Der Fotograf nahm die Filmkapsel in die rechte Hand und ging auf den Imbiß zu. Dort stellte er seine Reisetasche ab, fingerte mit der linken Hand eine Zigarette aus der Schachtel und legte die andere Hand auf die Theke.
"Hallo, Herr Schenk", sagte er. Überrascht sah Schenk ihn an. "Sie kennen mich nicht, Herr Schenk. Ich bin Fotograf und wie Sie ein Freund von Mey. Könnten Sie mir bitte Feuer geben und den Film, den ich hinter die Chipsschale gelegt habe, unauffällig an sich nehmen und Mey geben? Ich werde ihn später bei ihm abholen. Ich habe keine Zeit, Ihnen alles zu erklären. Es ist etwas Journalistisches, vielleicht etwas Brisantes. Mey wird das verstehen." Der Fotograf hielt die Zigarette hoch und klopfte auffällig mit der anderen Hand seine Taschen ab, wobei er nervös um sich schaute.
Seine Verfolger sahen, daß der junge Mann, den er um Feuer gebeten hatte, den Kopf schüttelte und einem entfernt stehenden Kameraden etwas zurief, woraufhin dieser ihm ein Feuerzeug zuwarf. Der junge Mann gab dem Fotografen Feuer und warf das Feuerzeug zurück. Der Fotograf bedankte sich und steuerte hastig eine Rolltreppe an, die zum Duty-Free-Shop führte, während der junge Mann an seinem Bier nippte und sich dann mit beiden Händen aus der Chipsschale bediente.
"Gut, daß Zapf nicht gesehen hat, daß Du ein Feuerzeug dabei hast", rief er dem Teamkollegen zu, während er den Film in seine Sakkotasche gleiten ließ. "Sonst würde er deinen Urin nach Nikotinspuren untersuchen lassen." Während die Gruppe in Gelächter ausbrach, warf er verstohlen einen Blick auf den Fotografen, der unerklärlich nervös die Rolltreppe hinauf hastete.
Zwanzig Minuten später hörten sie den schrillen Schrei einer Frau und neugierig liefen sie zu einem Pulk von Menschen, die sich aufgeregt in der Nähe der Rolltreppe versammelt hatten. Der junge Mann versuchte, die Ursache der Aufregung zu erkennen, aber erst, als der Pfiff einer Polizeitrillerpfeife erklang und die Menge sich plötzlich in Bewegung setzte, erkannte er die Leiche des Fotografen, der den Sturz aus der zweiten Etage nicht überlebt hatte.
"Ich habe gesehen, daß der Mann es eilig hatte und nur mit Mühe und Not meinen Wagen ausweichen konnte", sagte der Bote des Duty-Free-Shops oben auf der zweiten Etage zu den Polizisten und wies auf seinen mit Getränkekartons beladenen Rollwagen. "Und dann höre ich wenig später den Schrei, als er über das Geländer gestürzt ist. Ich will ja nicht behaupten, daß die Ecke hinter dem Sanitätsraum ein Sicherheitsrisiko ist, aber da ist es immer ein wenig schummrig und wenn man sich nicht auskennt und zu schnell um die Kurve kommt, kann man sich schnell erschrecken. Wahrscheinlich hat er bei dem Tempo den Mann mit der Bohnermaschine übersehen, wollte ausweichen und ist übers Geländer..."
In der Flughafenhalle tastete Schenk schockiert nach dem Film in der Jackentasche und überlegte, ob er den Polizisten, die den Unfallort sicherten, von dem Film erzählen sollte, und daß der Mann Fotograf gewesen sei, aber sein Französisch reichte gerade für den Hausgebrauch und außerdem hatte einer der Polizisten die Brieftasche des Toten in der Hand und wußte daher mehr über die Personalien des Mannes als Schenk. Dann sah er Mey, der auf den Polizisten zugetreten war und auf ihn einredete, woraufhin der ihn zu einem Sicherheitsbeamten des Flughafens brachte
. "Mey," rief Schenk und Mey blickte herüber. Er entschuldigte sich bei dem Beamten und kam zu Schenk.
"Kajott, das war ein Freund von mir, ich muß mich um die Angelegenheit kümmern. Ich nehme eine spätere Maschine. Kannst Du mein Gepäck in Düsseldorf vom Band nehmen? Ich hole es mir später ab."
"Das hat der Mann auch gesagt."
"Was?"
"Dein Freund. Er hat mir etwas für dich gegeben und wollte es auch später abholen."
"Ich wußte gar nicht, daß ihr euch kanntet."
"Haben wir auch nicht. Er sagte nur, er wäre ein Freund von Dir und hat mir das hier gegeben."
Schenk wollte den Film aus der Tasche nehmen, doch Mey legte eine Hand auf seinen Arm und sagte: "Laß uns das später klären, Kajott. Ich muß jetzt seine Frau anrufen und den ganzen Behördenkram ankurbeln, bis die Botschaft übernimmt. Ich melde mich bei Dir."
Der Sicherheitsbeamte zeigte auf ein Formular in seiner Hand, doch Mey hob ärgerlich die Arme. Er wies auf einen Abfertigungsschalter und machte eine Bewegung, als hielte er einen Hörer in die Hand und Schenk sah nur noch, daß er zu einem Büro geführt wurde und die Tür hinter ihm ins Schloß fiel.



21

"Können Sie den Ausschnitt noch mehr heranholen?" LeFevre wies auf die Szene am Imbiß und der Techniker drückte ein paar Tasten, woraufhin die Bar näher rückte, das Bild aber erheblich an Schärfe verlor.
"Verdammt", sagte LeFevre, "es ist kaum etwas zu erkennen. Sieht aber so aus, als habe er sich wirklich nur Feuer geben lassen."
Der Techniker sorgte dafür, daß die Aufnahme wieder in die Totale zurückfuhr und nun sahen sie wieder die Männergruppe in ihren dunklen Blazern, die fast alle Bier tranken. Sie sahen, wie die Männer plötzlich aufsprangen und nach links liefen, dann wechselte die Kameraposition und auf dem rechten Bildrand war wieder die Männergruppe zu erkennen, die zu einer Menschenmenge aufschloß. Der Techniker reagierte sofort auf das Kopfnicken LeFevres und zoomte die Szene heran. Nun sah man, daß Schenk auf etwas in der Menschenmenge starrte und wenig später jemanden mit einer Armbewegung zu sich winkte.
"Wen hat er herangewunken?" fragte LeFevre. Der Techniker zuckte mit den Schultern.
"Wir bekommen ihn nicht ins Bild." Schenk bewegte sich am Rande eines trapezförmigen Schattens, in dem sich sein Gesprächspartner befand.
"Die Regierung hat trotz unserer Warnungen EURO-Werbung im Schwenkbereich der Kameras anbringen lassen", erklärte der Techniker. Er wies mit seiner Zigarette auf den Schatten.
"Das ist das Resultat."
"Ich lasse klären, was das für eine Truppe ist", sagte LeFevre und griff nach dem Telefonhörer. "Aber es wird Tage dauern, bis wir den Typen dort identifiziert haben." Er wies auf den jungen Mann, der in den Schatten gestikulierte.
"Das ist Schenk, ein sehr guter Fußballer", sagte der Präsident, der mit Achim Muller den Monitorraum betreten hatte.
"Was ist mit ihm?"
"Er war die letzte Kontaktperson dieses Fotografen. Es ist nicht auszuschließen, daß er den Film entgegengenommen hat."
"Schenk? Blödsinn, er hat nur Fußball im Kopf, etwas anderes interessiert ihn nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er..."
"Was Sie sich vorstellen können, interessiert mich herzlich wenig. Wir müssen ihn unter die Lupe nehmen. Das sind mir zu viele Zufälle. Erst Sie und der Fotograf, dann der Fotograf und dieser Fußballer." sagte LeFevre gereizt.
"Ihr Ton paßt mir nicht", sagte der Präsident.
"Mir paßt nicht, daß Sie gegen meine Sicherheitsvorkehrungen verstoßen. Ohne Ihre maßlose Arroganz wäre der ganze Schlamassel nicht passiert. Ich hatte ausdrücklich untersagt, die öffentlichen Gänge im Bofinger zu betreten."
"Ich habe es nicht nötig, mir das bieten zu lassen." Wutentbrannt verließ der Präsident den Raum.
"Verdammt, LeFevre, reißen Sie sich zusammen", schimpfte Muller. "Wie können Sie in diesem Ton mit einem Geschäftspartner LeContis sprechen."
"Um die Diplomatie soll LeConti sich kümmern. Er muß sich ja langsam daran gewöhnen, wie es ist, mit Deutschen zu tun zu haben."
LeFevre bedankte sich bei dem Techniker und drängte Muller aus dem Monitorraum.
"Ich brauche sofort einen Flug nach Düsseldorf. Und sorgen Sie dafür, daß ich alle Informationen über diesen Schenk vorfinde, wenn ich in Düsseldorf lande." Er schloß die Tür hinter Muller und ging zum Telefon. Er wählte eine Nummer in Düsseldorf.
"Wir haben ein Problem. Ist Dir ein Fußballer namens Schenk ein Begriff? Das habe ich befürchtet. Besorg Dir seine Adresse und laß die Wohnung präparieren. Er sitzt jetzt noch im Flieger nach Düsseldorf. Ja, Martinez ist der richtige Mann. Zeller übernimmt Schenk, sobald er die Maschine verläßt. Sag ihm das."
LeFevre legte auf und verließ den Raum. Muller fing ihn in der Haupthalle ab und drückte ihm das Flugticket nach Düsseldorf in die Hand.
"Das Dossier über Schenk ist in Arbeit. Wir faxen es nach Düsseldorf kurz bevor Du landest."
LeFevre nickte. Er prüfte das Ticket und näherte sich der Sperre, als sein Handy summte.
"Zeller und Schenk kennen sich," sagte sein Düsseldorfer Gesprächspartner.
"Verdammt. Dann muß Martinez den Fußballer übernehmen."
"Er ist schon auf dem Weg zu Schenks Wohnung."
"Laß ihn wieder umkehren."
"Zu spät. Er ist mit dem Motorrad unterwegs, sonst haben wir zuwenig Zeit, die Elektronik in der Wohnung zu installieren."
"Zeller soll sich etwas einfallen lassen. Er ist lange genug dabei."
LeFevre unterbrach die Verbindung. Eigentlich müßte er sich über die Bofinger-Panne ärgern, aber in Wirklichkeit genoß er die Entwicklung. Er spürte jenes Kribbeln, das ihn in Algerien und Indochina begleitet hatte, wenn er seinen Auftrag zu erledigen hatte: den Feind zu jagen und zu erledigen. Der Fotograf war geschickter gewesen, als er vermutet hatte und er hoffte, daß Schenk es ihm nicht allzuleicht machen würde. Er wünschte sich wieder einmal eine echte Herausforderung.



22

Schenks Taschen und Meys Koffer waren die ersten Gepäckstücke, die auf dem Laufband des Parisfluges erschienen und so gelangte er vor den Mannschaftskameraden in die Ankunfthalle des Düsseldorfer Flughafens. Eine kleine Menschengruppe stand vor der automatischen Tür, um Freunde oder Familienmitglieder zu empfangen und nach Hause zu fahren, aber Schenk achtete nicht auf sie, da niemand auf ihn warten würde. Er sah zurück zur automatischen Tür, aber noch war kein weiterer Spieler sei-nes Teams herausgekommen. Schenk schob seinen Gepäckwagen gemächlich zum Ausgang, um nach dem Bus Ausschau zu halten.
"Was machst Du denn hier, Schenk?"
Überrascht blickte Schenk auf den modisch gekleideten Mann, der gerade ein Gespräch mit dem Handy beendet und ihn angesprochen hatte. Zeller, fiel es ihm ein, Schlüsselbeinbruch, Kapselriß und schwere Hüftprellung, ein Leidensgenosse aus der Reha-Praxis. Recht nett, aber ein wenig zu neugierig.
"Und Du? Was treibt Dich so spät am Abend zum Flughafen?"
"Eigentlich wollte ich eine Bekannte abholen, die aus Paris zurückkommt. Sie hat mir eben mitgeteilt, daß sie den Flug verpaßt hat", sagte Zeller und deutete auf sein Handy.
"Das ist Pech. Ich komme auch gerade aus Paris."
"Mit der 22-Uhrmaschine?"
"Ja."
"Genau die hat Uschi verpaßt. Die letzte Maschine aus Paris. Sie nimmt den ersten Flug morgen früh. Soll ich Dich mitnehmen? Dann wäre ich nicht umsonst hierher gefahren. Mein Wagen ist groß genug für das Gepäck." Er musterte Schenks vollbepackten Wagen.
"Danke, Zeller. Die Mannschaft fährt gemeinsam mit dem Zeugwart zum Vereinsheim. Zapf hat seinen eigenen Stil."
Schenk verabschiedete sich schob den Wagen mit seinem und Meys Gepäck zum Mannschaftsbus. Er sah noch einmal über die Schulter zu Zeller zurück, der wieder in sein Handy sprach und ihm zuwinkte, als er bemerkte, daß Schenk zu ihm herübersah.
Sie hatten eine sehr nette Stewardeß im Flieger. Schenk hatte gefragt, ob es oft vorkäme, daß jemand plötzlich seinen Flug absagen müßte wie Mey. Es hielte sich im Rahmen, hatte sie gesagt, es käme öfter vor, daß jemand zu spät käme oder den Flug verpassen würde. Aber heute wären alle Fluggäste erschienen, bis auf Mey natürlich.
Schenk schob seine Taschen nachdenklich in den Laderaum des Mannschaftsbusses. Wer hatte jetzt gelogen, Zeller oder seine Bekannte?



23

Die letzten Wochen hatten ihm schwer zugesetzt. Täglich waren neue Hiobsmeldungen eingetroffen und schließlich war sein kunstvoll aufgebautes Imperium zusammengebrochen. Kredite platzten, seine Verträge mit Versicherungskonzernen wurden gekündigt, die Abnehmer seiner Buchungssoftware überzogen ihn mit Schadensersatzklagen und die Banken kassierten schließlich seine gesamten Vermögenswerte, um ihre Forderungen auszugleichen. Er verlor seine Autos, seine Eigentumswohnung und sein Ferienhaus und als er zum letzten Mal die Tür zu seinem Büro abschloß, besaß er nur ein paar Anzüge, einen Laptop und ein Schrottauto vom Essener Gebrauchtwagenmarkt am Autokino.
Er wohnte nun in einem möblierten Zimmer in der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens und war in seiner neuen Firma immer der letzte, der das Büro verließ, um erst zu Hause zu sein, wenn das Nachtflugverbot einsetzte. Jeden Abend, wenn er sein scheußliches Zimmer betrat, schwor er demjenigen Rache, der ihn in diese Lage gebracht hatte, aber Haß ist kein guter Verkäufer.
Seine neuen Kollegen mieden ihn, denn er war glücklos und in dieser Riege der Glücksritter hatte man Angst, daß Pech anstecken konnte.
Melzer war eine Telefonstimme geworden, die ahnungslosen Ärzten, Selbständigen und Freiberuflern Kapitalanlagen und Steuersparmodelle zu verkaufen versuchte, aber da die Finanzkonstruktionen einerseits dubios erschienen und seiner Stimme trotz aller Bemühungen anzumerken war, daß etwas mit ihm nicht stimmte, hatte er wenig Erfolg.
Auch dieser Tag brachte ihm keinen Erfolg und niedergeschlagen saß er an seinem ärmlichen Telefontischchen im sogenannten Pennysaal, den sich 25 Telefonverkäufer teilen mussten, die Armutsriege der Firma. Sie krebsten im Kleingeschäft herum, das ihnen gerade das Überleben sicherte und mußten sich ständig an neue Gesichter gewöhnen, weil die Schlechtesten gefeuert wurden und die Hoffnungslosen aufgaben. Der Rest träumte davon, einmal in die 4-Mann-Büros an der Stirnseite des Pennysaals zu kommen oder es in einen der komfortablen Räume der Topverkäufer auf der anderen Seite des Flurs zu schaffen, wie Niels Bohrmann, der vor ein paar Minuten sein Büro verlassen hatte und nun wieder zurück über den Flur gerannt kam, sein Büro aufschloß und kurz darauf mit einer Aktenkladde herausstürzte. Er sprach in sein Handy und bat seinen Kunden, wie Melzer hören konnte, um Geduld, weil er mitten im Stau steckte, Lügen, die Melzer früher auch benutzt hatte, in den guten Zeiten, als er schon einmal länger beim Italiener sitzen geblieben war.
Bohrmann war auf dem Weg nach ganz oben. Er durfte sein Büro nach seinem persönlichen Geschmack einrichten und hatte einen festen Kundenstamm, den er nicht nur telefonisch, sondern auch persönlich betreute. Darin war er so erfolgreich, wie am Kaffeeautomaten des Penny-Saals gemunkelt wurde, daß er spätestens zur Jahresmitte in den "Wintergarten" ziehen durfte, wie die großen Büros im sechsten Stock genannt wurden, die durch ihre riesigen Fenster einen grandiosen Blick über den Hafen zur Rheinschleife ermöglichten und mit Teppichen, Ledersofas und eigener Teeküche ausgestattet waren.
Wer hier residierte, hatte einen Schlüssel zum separaten Aufzug und einen reservierten Parkplatz in der Tiefgarage, verfügte über ein üppiges Spesenkonto und besaß Kunden in ganz Europa.
Neidisch blickte Melzer dem davoneilenden Bohrmann hinterher. Es mußte ein äußerst potenter Kunde sein, den Bohrmann aufsuchte, wahrscheinlich der letzte große Fisch, der ihn in den Wintergarten katapultieren würde, denn Bohrmann arbeitete in der Regel Freitag abends nicht mehr. Nur die Aussicht auf einen Bombenauftrag ließ die Hektik erklären, mit der Bohrmann über den Flur gestürmt war, um eine fehlende Akte zu holen, und diese Akte mußte sehr wichtig sein, denn sonst wäre er nicht so nervös und überstürzt davon gerannt.
Melzer warf einen Blick in den Saal, um zu prüfen, ob noch jemand Bohrmanns Fehler bemerkt hatte. Außer ihm waren nur drei Kollegen anwesend. Schmiegel, der zum letzten Mal seine Tasche packte, weil er heute gefeuert worden war und Felix, der seit einer Woche Annette anbaggerte, die vor kurzem zur Firma gestoßen war und die Frauenquote im Saal verdoppelt hatte. Felix schien es endlich geschafft zu haben, denn er half ihr soeben in den Mantel und verließ mit ihr den Saal. Schmiegel schloß seine Aktentasche und kam zu Melzer herüber.
"Das wars, Melzer", sagte er und gab ihm die Hand.
"Machs gut", sagte Melzer.
"Machs besser", antwortete Schmiegel und ließ seinen Blick über den Pennysaal schweifen.
"Eigentlich müßte ich mich jetzt beschissen fühlen," sagte er. "Aber ehrlich gesagt, bin ich froh, daß ich diese Hölle nicht mehr betreten muß. Ich merke jetzt erst, unter welchem Druck ich gestanden habe."
Melzer nickte verständnisvoll, aber er wünschte, daß Schmiegel endlich ginge.
"Hast Du schon was Neues?" fragte er höflichkeitshalber.
"Call Center", sagte Schmiegel. "Weinhandel. Kennst Du sicher aus dem Fernsehen. Apropos. Hast Du Lust auf einen Schluck? Zum Abschied sozusagen."
"Ich würde gerne," sagte Melzer. "Aber die muß ich alle noch anrufen." Er hob eine Liste vom Schreibtisch.
"Scheissjob." sagte Schmiegel, schlug ihm auf die Schulter und ging.
Melzer wartete eine Weile, nachdem Schmiegel den Aufzug betreten hatte, dann verließ er seinen Telefonplatz und ging in den Flur. Die Aufzüge bewegten sich nicht. Melzer lief an den Büros vorbei und kehrte dann an den Ausgangsplatz zurück. Wie jeden Freitag waren alle Mitarbeiter früher nach Hause gegangen, um das Wochenende zu feiern und eigentlich sollte Melzer wie jeden Freitag versuchen, jemanden von seiner Telefonliste zu erreichen, aber heute hatte sich etwas Besseres ergeben. Melzer überprüfte wachsam den Flur, dann ging er eilig nach links. Ohne zu zögern drückte er die Klinke zu Bohrmanns Büro herunter. Er hatte sich nicht getäuscht! Bohrmann hatte vergessen, sein Büro abzuschließen.
Durch die Scheiben, die unter der Decke zum Flur hin führten, fiel genügend Licht herein, um das Büro betrachten zu können. In der Ecke stand Bohrmanns neue Golfausrüstung, die zur Grundausstattung der 'Wintergärten' gehörte, an der Stirnseite des Büros hing eine Fotografie, die Bohrmann mit Franz Beckenbauer auf einem Golfplatz zeigte.
"Angeber", dachte Melzer. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich und Melzer ließ sich an Bohrmanns Schreibtisch nieder. Er wußte nicht genau, was ihn veranlasst hatte, das Büro zu betreten. Zum einen die Neugier, zu sehen, wie das Büro der Aufsteiger im Verkauf eingerichtet war und zum anderen der Drang, einen Fehler des arroganten Bohrmann auszunutzen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich lebendig. Er zog an einer Schublade des Schreibtisches, aber sie war abgeschlossen. Er drehte sich in Bohrmanns teurem Ledersessel und dann sah er, daß die Tür des Aktenschrankes nicht richtig geschlossen war.
Melzer öffnete den Schrank. Auf vier Etagen waren jeweils 10 Aktenordner untergebracht, links davon war der Schrank mit 6 leichtgängigen Schubladen ausgestattet. Melzer untersuchte die Schubladen zuerst. Zum größten Teil waren Formulare darin gelagert, Anträge für Versicherungen, Investitionsdepots, Kapitalanlagen, Bausparverträge. Es gab Prospektmaterial für Goldsparpläne, Schiffsbeteiligungen, Schweizerische und Luxemburger Industriebeteiligungen zu günstigen Steuersätzen. Melzer blätterte in den edel aufgemachten Katalogen für Auslandsimmobilien, Offshore Companies mit persönlichen Bankkonten und er las von den hohen Gewinnerwartungen als stiller Gesellschafter eines Firmenverbundes. Bohrmann hatte alles anzubieten: offene und geschlossene Immobilienfonnnds, riskante Spekulationen am Warenterminmarkt, hohe Renditen durch Wertdifferenzgeschäfte, Firmenmäntel in Steueroasen. Eine breite Palette für gutbetuchte Klienten, die ihr Geld vermehren oder am Fiskus vorbei verschwinden lassen wollten.
Melzer zog die Aktenordner heraus und blätterte darin. In die schmalen Ordner hatte Bohrmann Verkaufsunterlagen sortiert, so daß er je nach Klientenprofil mit einem Griff eine Angebotspalette präsentieren konnte, mehrere große Ordner enthielten weiteres hochwertiges Katalogmaterial über englische Limited Companies mitsamt Zertifikaten.
Melzer schloß den Schrank. Das war alles bunt und vielfältig, aber er hatte sich aufregenderes versprochen, geheime Dokumente oder wenigstens Hinweise auf richtig schmutzige Geschäfte, aus denen sich vielleicht etwas herausschlagen ließe. Alle anderen Schränke waren verschlossen und so kam er auch nicht an Bohrmanns Kundenunterlagen. Mit einer Liste von Klientennamen und einem Überblick über deren Geschäftsvorlieben und finanzielle Ausstattung hätte er schon irgend etwas anstellen können.
Er stellte den Stuhl wieder in die Stellung, in der Bohrmann ihn zurückgelassen hatte und öffnete die Tür einen Spalt, um zu sehen, ob er unauffällig in den Penny-Saal zurückkehren konnte.
Er wollte gerade hinausschlüpfen, als Bohrmanns Faxgerät piepste und dann unaufhörlich Seite auf Seite auswarf. Melzer war zu neugierig, um jetzt das Büro verlassen zu können und so nahm er den Stapel Papier aus der Ablage und blätterte ihn durch. Auch diese Seiten boten nur enttäuschendes. Es waren Hinweise der Verwaltung über Änderungen von Versicherungsmodalitäten, neue Beitragssätze wurden aufgelistet und ein Provisionswettbewerb wurde vorgestellt. Es folgte ein weiteres Blatt mit dem ausdrücklichen Vermerk "Nur für den internen Gebrauch".
Melzer blätterte um. "Avisierte Projekte "las er auf dem handschriftlich ausgefertigten Deckblatt und es folgten Kopien aus weiteren Kapitalanlageprospekten. Davon hatte Melzer inzwischen genug gesehen, so daß er die Kopien schnell durchblätterte. Das Titelblatt eines Projektentwurfes ließ ihn stutzen. Die Zeichnung kam ihm bekannt vor und bei näherem Hinsehen erkannte er die Rheinschleife und die Umrisse des Industriegebietes "Rheinklammer". Es folgten vier eng beschriebene Seiten und mehrere Blätter mit Balken- und Kuchengrafiken, Statistiken und architektonischen Zeichnungen. Melzer hatte keine Zeit, den Entwurf zu lesen, aber er wollte auch nicht das Risiko eingehen, ihn einfach mitzunehmen. Faxgeräten gelang es zwar immer noch, Nachrichten unvollständig oder unlesbar auszudrucken, aber Bohrmann konnte anhand des Faxprotokolls feststellen, wieviel Seiten eingegangen waren. Das Verschwinden gerade dieser Seiten würde er vielleicht erst später bei Fragen in der Wochenkonferenz feststellen, aber das würde verstärkte Kontrollen zur Folge haben. Man würde anhand der Zeiterfassungsdaten feststellen, daß Melzer als einziger Mitarbeiter des Pennysaales zum Zeitpunkt des Faxeinganges das Gebäude noch nicht verlassen hatte und würde daraufhin den Sicherheitsdienst einschalten. Von dessen Aktivitäten hatte Melzer nur beunruhigende Gerüchte gehört. Beim Durchsuchen von Bohrmanns Büro war ihm kein Kopierer aufgefallen und er überlegte, ob er den Kopierer im Pennysaal benutzen sollte. Aber das Risiko, beim erneuten Betreten des Büros gesehen zu werden, war einfach zu groß. Plötzlich fiel ihm das Faxgerät ein.
Er legte das "Rheinklammer-Material" in den Einzugschacht und studierte die Bedienungstasten des Gerätes. Schließlich fand er die Kopiertaste und tatsächlich wurden die Seiten eingezogen und mit einem sirrenden Geräusch warf das Faxgerät die Kopien heraus. Nervös horchte Melzer, ob Gefahr vom Flur drohte, aber alles blieb ruhig. Er nahm die Kopien heraus und deponierte alle Faxseiten in den Auswurfschacht. Als er die Kopien knickte, um sie in die Jackentasche stecken zu können, fiel ihm auf, daß er einen Fehler gemacht hatte. Alle Seiten waren leer. Hastig nahm er den Faxstapel wieder heraus und suchte nach den Rheinklammer-Papieren. Wie hatte er sie in das Faxgerät gelegt? Die bedruckte Seite nach oben oder nach unten? Er legte probeweise nur eine Seite hinein und drückte die Kopiertaste. Für Melzer viel zu langsam wurde die Seite eingezogen und in dem Moment, als die Kopie ausgeworfen wurde, klingelte das Telefon auf Bohrmanns Schreibtisch. Erschrocken zuckte Melzer zusammen und Panik erfasste ihn. Er war schon viel zu lange in Bohrmanns Büro. Vielleicht war schon ein Wachmann im Pennysaal gewesen, weil er sich gewundert hatte, daß alle Lampen brannten, aber niemand zu sehen war? Plötzlich erklang Bohrmanns Stimme vom Anrufbeantworter. Schweißtropfen bildeten sich auf Melzers Stirn. Zitternd zog er die Kopie heraus, während Bohrmann sachlich um das Hinterlassen einer Nachricht bat. Die Kopie war gelungen. Schnell legte Melzer die anderen Bätter in den Schacht und war vor lauter Nervosität unsicher, ob er sie richtig eingelegt hatte.

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Die destruktive Variante.
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